Die Demokratie gerät zunehmend in Bedrängnis. Die Zustimmung zu unserer Regierungsform sinkt – und was uns letztlich zusammenhält, wird immer unklarer. Unter dem Titel „Fulldemo.crazy“ laden die beiden Gruppen Studio Trafique und Wehr51 zu einem Live-Theater-Game. Um was es dabei geht und wie sich im Theaterdemokratische Prozesse spielerisch erfahrbarmachen lassen, erzählen Anna Marienfeld und Björn Gabriel von Trafique und Andrea Bleikamp von Wehr51.
choices: Frau Bleikamp, Frau Marienfeld, Herr Gabriel, was ist der inhaltliche Ausgangspunkt des Spiels?
Anna Marienfeld (AM): Wir befinden uns im Jahr 2024. Und die Zuschauer:innen, die zugleich Spieler:innen sind, werden darüber informiert, dass eine unbekannte Gruppierung das Parlament gestürmt hat. Noch sind die Forderungen dieser Gruppierung unklar, allerdings wurden Livestreams von dieser Bewegung angekündigt. Politik und Einsatzkräfte halten sich zurück, um eine Eskalation zu verhindern, weil nicht klar ist, ob die Täter:innen bewaffnet sind. In diese Situation werden die Spieler:innen reingeworfen.
Björn Gabriel (BG): Es kommt noch ein anderer Umstand als Ausgangspunkt unseres Spiels dazu. Für uns tickt eine Uhr, die uns zum Handeln zwingt: Die Klimakatastrophe. Und diese beiden Vorgänge versuchen wir zusammenzubringen. Das Machtvakuum entspricht dabei dem Nichthandeln in Sachen Klima. Zwischen diesen Parametern entwickelt sich gerade unsere Erzählung. Während wir bei unseren bisherigen Produktionen meist von der Literatur ausgegangen sind, gehen wir nun von den Strukturen des Gamings aus und versuchen, mit unserem Programmierer Tobias Weikamp unsere Rahmenhandlung auf die Spiele, die er sonst entwirft, anzupassen.
Wenn eine Gruppe symbolisch ein Zentrum der Macht besetzt, würde sie sofort eine Verlautbarung rausgeben. Was ist also mit der Truppe in Ihrem Spiel los?
AM: Wir überlassen das zunächst der Interpretation der Spielenden. Und zwar deshalb, weil diese Besetzung während eines außerordentlichen Weltklimagipfels stattfindet. Damit stellt sich dieFrage: Sind die Besetzer:innen vielleicht Aktivist:innen mit guten Absichten oder doch eher tumbe Idiot:innen? Unser Anliegen ist es, spielerisch demokratische Prozesse erfahrbar zu machen. Und deswegen geben wir die Interpretation nicht vor, sondern möchten möglichst viel Spielraum zulassen, sich zu entscheiden.
Wenn die Zuschauer:innen zu Spieler:innen werden, worum spielen sie, wie bringen sie sich ein?
BG: Im Moment läuft es gerade darauf hinaus, dass die Parlamentsbesetzenden mit den Zuschauer:innen einen Versuch starten, ob es überhaupt demokratietaugliche Bürger:innen gibt. Sie animieren die Spielenden, sich in den Gruppen zusammenzufinden und gemeinsam Lösungen zu erarbeiten.
Andrea Bleikamp (AB): Es geht darum, das Machtvakuum zu besetzen. Deshalb war für uns das Setting mit dem Weltklimagipfel so wichtig. Nicht nur ist das 1,5-Grad-Ziel bereits vom Tisch, uns beschäftigen außerdem gerade andere Probleme. Wir behaupten, dass das Klima möglicherweise in nächster Zeit derart kollabiert, dass Probleme wie die Kriege in Israel oder der Ukraine sowieso in einem völlig anderen Kontext stattfinden. Mit der Stürmung des Parlaments in unserem Spiel ist ein Machtvakuum entstanden, das gefüllt werden soll. Es wird am Abend zwei Gruppen geben, die um die Macht konkurrieren, aber im Endeffekt kooperieren müssen.
Das heißt, die Zuschauer und Zuschauerinnen müssen sich auch untereinander verständigen, was sie überhaupt wollen?
AM: Genau. Da sind wir dann bei der Komplexität von demokratischen Prozessen. Es gibt zwei Gruppen, die sich untereinander verständigen müssen, teilweise in sehr kurzer Zeit. Wir versuchen, verschiedene demokratische Prozesse ins Spielerische zu übersetzen und nutzen dafür verschiedene Arten von Games, die man wiedererkennen kann. Das Ziel des Abends ist dabei auch der Spaß am Spiel.
Bei der gamescom knubbeln sich vor den Screens die Menschen, weil nur ein oder zwei Leute spielen können. Wie kommen die digitale Web-Oberfläche und das analoge Spiel zum Einsatz?
AM: Darin liegt die Herausforderung. Wir überprüfen jedes digitale Teil-Game, dass es einerseits in sich spannend ist und dass es zugleich eine Gruppendynamik auslösen kann. Dafür schaffen wir verschiedene Mechanismen, von Gruppendiskussionen über Buttons bis zu Interaktionen im analogen Raum – ähnlich wie in einem Escape Room, in dem man gemeinsam etwas suchen oder Rätsel lösen muss. Es ist uns ganz wichtig, dass es eine fortwährende Interaktion gibt zwischen der Leinwand einerseits, auf der das Spielgeschehen übertragen wird, und andererseits dem digitalen Raum sowie drittens dem analogen Raum.
AB: Wir orientieren uns bei den Spielen nicht an den Ego-Shooter-Spielen, sondern an Kooperationsspielen, wie es sie seit den 1980ern gibt.
BG: Und damit die Zuschauenden den Abend alle gut miterleben können, reduzieren wir außerdem die Zuschauerzahl auf 24 Personen pro Vorstellung.
Welche Funktion haben die beiden Schauspielerinnen am Abend?
AM: Anna Möbus und ich spielen keine Figuren, sondern fungieren als Spielleiterinnen, die jeweils eine Gruppe betreuen und ihr im Zweifelsfall hilfreich zur Seite stehen. Und wir sind auch als Hilfe zur Stelle, um zu koordinieren, auch technisch zur Seite zu stehen oder heimlich einen Cue auszulösen, wenn das Spielgeschehen irgendwo hakt oder stockt.
Es gab in den letzten 70 Jahren immer wieder verhaltenspsychologische Experimente, die gezeigt haben, dass Menschen beim Rangeln um Macht auch aggressive und diktatorische Züge entwickeln können. Ist denkbar, dass am Ende des Spiels antidemokratische Kräfte ans Ruder kommen?
AB: Nein! (lacht) Ein Thema war immer wieder, wie man diese Spiele anlegt. Das Thema ist zwar die Übernahme eines Macht-Vakuums, aber es ist kein Kriegsspiel. Es soll ein Kooperationsspiel sein. Wir wollen im Spiel dazu aufrufen, sich zur Zusammenarbeit zu vernetzen.
Die Frage zielte weniger auf die spielerische Voraussetzung als auf reale demokratische Verhältnisse, die jederzeit wie in Polen, Ungarn oder der Türkei ins Autoritäre oder Diktatorische kippen können. Und zwar auf völlig legale Weise.
BG: Wir wissen nicht, wie sich die Menschen am Abend verhalten. Aber wir versuchen, durch die Art des Spiels Verhaltensweisen zu triggern. Wir sind dabei voller Hoffnung, dass Demokratie möglich bleibt. Wir haben uns erst mal auf das Gute, Schöne und Wahre konzentriert. Aber es wird sicherlich jede Gruppe anders sein und reagieren – selbst wenn zwei Begleitpersonen dabei sind.
AM: Es wird durchaus ambivalente Elemente geben, die allerdings nicht in die Diktatur führen. Also beispielsweise Entscheidungen, die anfangs ganz nett aussehen, aber fatale Konsequenzen haben. Das gehört zur Komplexität von politischen Entscheidungen dazu. Das fängt für mich eigentlich sogar schon früher an. Schon die Trennung in zwei Gruppen etabliert eine Konkurrenzsituation. Wie gehen wir damit um? Kann nicht genauso gut die andere Gruppe gewinnen? Mit solchen Punkten arbeiten wir immer wieder, aber eben eher spielerisch.
AB: Eine der Überlegungen war auch, wie man alsZuschauer:in aus dem Abend rausgehen möchte. Wir wollen die Spielenden ja nicht entlarven. Unser Anliegen ist, dass alle am Ende mit dem Gedanken der Kooperation herausgehen, mit dem Gedanken, dass wir gemeinsam handeln müssen.
Fulldemo.crazy | R: Trafique/Wehr51 | 6. - 9.12., 6. - 9.3. | Studio Trafique | info@trafique.de
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