Ironisch betrachtet ist es nicht mehr wichtig, wann der Mensch erschien – ob im Erdzeitalter des Pleistozäns (beginnend vor etwa 2,5 Millionen Jahren) oder im Holozän, das die letzten 12.500 Jahre bis ins Jetzt umspannt: Mit seinem Erscheinen setzte der Mensch die Uhr des Untergangs auf einen endgültigen Anfang. In seiner 1979 erschienenen Erzählung platziert Max Frisch eben jenen Menschen, Herrn Geiser, in eine abgelegene Schweizer Dorfhütte, die außer ihm, einer Katze und einem Feuersalamander lediglich das Wissen der Zivilisationen in Buchform beherbergt. Nach tagelangen heftigen Gewittern halluziniert der alte Mann das Abrutschen des Berges und die Auslöschung des Dorfes. Mit zunehmender Angst häufen sich ferner seine eigenen Gedächtnislücken. Um sich stets Auskunft erteilen zu können, schreibt der isolierte Senior die überlieferten Erkenntnisse aus Geschichts- oder Sachbüchern ab und kleidet damit die Wände des Wohnraums aus. Ein kräftezehrender Ausbruchversuch ins vermeintlich sichere Nachbarland Italien, verbunden mit Erinnerungen an seine verlorene Jugend, gelingt fast, bis dem Wanderer, seinem Ziel schon näher als der Aufbruchstätte, die Sinnlosigkeit seiner Flucht vor der Endlichkeit bewusst wird und desillusioniert in sein Heim zurückkehrt.
In der rund 80-minütigen Adaption am Theater der Keller wagt Regisseur Ronny Miersch ein riskantes Experiment: Das prädestinierte Ein-Mann-Stück kreuzt er mit einem klassischen Chor aus fünf Schauspielerinnen, die dem Erzähler mal als geisterhafte Wesen, mal als Schafe oder real existierende Personen erscheinen. In der Hauptrolle setzt Thomas Balou Martin mit durchdringendem Charisma die Naturkräfte von Sturzbächen, Donnerschlägen und Blitzen frei. Auch das gleichmütige Schweigen des über ihm ragenden Berges intoniert der Mime meisterlich. Ob der darstellerische Kontrast zu den ihn umgebenden jungen Schauspielschülerinnen so gewollt war, bleibt dahingestellt. Trotz eines gelungenen Abbildes des beginnenden Wahnsinns wirken die Figuren mitunter überzeichnet, schreibt ihnen das Manuskript neben Tierlauten auch Charaktereigenschaften zu, deren Witz nicht zündet, etwa bei der stereotypen Verkörperung einer Greisin.
„Katastrophen kennt allein der Mensch, sofern er sie überlebt; die Natur kennt keine Katastrophen“, erinnert Geiser kurz vor seinem persönlichen Finale an die vielleicht nur flüchtige Erscheinung des Menschen im Weltengefüge. Auch Frischs existenzielle Fragestellung, „ob es Gott gibt, wenn kein Gehirn mehr existiert, das die Schöpfung ohne Schöpfer nicht denken kann?“, füllt der melancholisch wie stoisch auftretende Protagonist mit erschütternder Stille auf der spartanisch eingerichteten Bühne. Unabhängig von dem damit verbundenen Drama des Lebens und Vergehens lautet im Theater der Keller die spielerische Auseinandersetzung „Reduzierug versus Maximierung“. Über dessen Ausgang beschied das Premierenpublikum mit langanhaltendem Applaus zugunsten des Ensembles.
Der Mensch erscheint im Holozän | 9., 10., 22.5., 28., 29.6. je 20 Uhr, 16.6. 18 Uhr | Theater der Keller | 0221 31 80 59
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