Das Erbe des Nationalsozialismus findet sich bis heute auf deutschen Dachböden: ein vergilbtes Foto von Opa mit beunruhigend vielen Orden oder ein Klappmesser mit Hakenkreuz, das einem auf der Suche nach dem Christbaumständer aus dem Angelkoffer heraus anblitzt.
So auch bei den Geschwistern Philip (Christoph Wehr) und Nicola (Nathalie Dudzik), die den Nachlass ihres Vaters abwickeln. Auf der Matratze, auf der Papa starb, vögelt sich demnächst ein Student um den Verstand. Papa ist tot, alles muss raus – auch das in zarten Sepiatönen gemalte Bild der Wiener Ruprechtskirche, Stilrichtung „kitschiger Realismus“. Aber was steht da in der rechten Ecke? „A. Hiller“ – oder ist das ein „t“?
Das Gemälde ist plötzlich nicht mehr für den Wertstoffhof, sondern für den verdeckten Kunstmarkt interessant. Möglicherweise können die Geschwister es für Hunderttausende verkaufen – wenn sie sich nur winden. Entgegen der Überzeugung, dass Oma und Opa gewiss im Widerstand waren – „zumindest aber gegen Nazis, schon aus ästhetischen Gründen“ – muss rasch eine familiäre Nähe zum Führer geschaffen werden. Wie sonst ließe sich die Echtheit des Kunstwerks bezeugen?
In Marius von Mayenburgs bitterböser Komödie über Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung wird ein Aquarell zum Weltkriegsblindgänger mit Sprengkraft. „Nachtland“ nimmt sich großer Themen an: Trennung von Werk und Künstler, deutsche Verdrängungskraft, Nahostkonflikt. „Sie möge bitte mit der ständigen Schuldzuweisung aufhören und lieber vor der eigenen Tür kehren“, bekommt Philips jüdische Frau Judith (Esin Eraydin) entgegnet, als sie sich weigert, die erste eigene Wohnung mit dem Verkaufserlös des Gemäldes zu finanzieren. Sätze, die ins Zwerchfell stechen.
Dem Stück wird mitunter vorgeworfen, dass die Charaktere oberflächlich geschrieben seien. Die Inszenierung von Volker Lippmann und das Ensemble des Tiefrot Theaters schreiten aber so entschlossen durch sämtliche Minenfelder der abendlichen Konversation, dass den Zuschauern für derartige Beobachtungen keine Zeit bleibt.
„Wo kämen wir denn hin, wenn wir alle, die Hitler verehren, als Nazis betiteln?“, meint die herbeigerufene Kunstsachverständige (Ursula Wüsthof). „Nachtland“ ist auch ein schreiend komischer Kommentar auf reale Diskursverschiebungen. Wenn im Jahr 2024 Menschen allerdings ernsthaft behaupten, Hitler sei links gewesen, bleibt die Frage, wie lange die Pointen noch halten.
Nachtland | 11., 12., 13., 14.12. je 20 Uhr | Theater Tiefrot | www.theater-tiefrot.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ein Original Hitler?
„Nachtland“ am Theater Tiefrot
Saufen als Brauchtum
„Der fröhliche Weinberg“ am Theater Tiefrot – Prolog 08/22
Kurzer Prozess
Zuckmayers Drama am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 05/22
„Wir machen weiter!“
20 Jahre Theater Tiefrot – Prolog 04/22
Wolken sind aus <s>Poesie</s> Angst gemacht
„Störfall“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 01/22
„Ich weiß nicht, wie oft wir schon totgesagt wurden“
Volker Lippmann über „Der eingebildete Kranke“ – Interview 07/21
„Eine Frau mit bemerkenswerten Ansichten“
Juliane Ledwoch über „Frida Kahlo – Erinnerung an eine offene Wunde“ – Premiere 01/20
Aufgewirbelter Staub und zahlreiche Fragen
„Die vergessene Revolution“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/18
Dreigroschen-Vampire auf Urlaub
„Die Dreigroschenoper“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 08/18
Bessere Welt?
Theater im September im Rheinland – Prolog 08/18
Madame la Mort
„Die Geschichte von den Pandabären“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 07/18
Die Sonne scheint nur
Sommertheater in Köln – Prolog 06/18
Im Land der Täter
„Fremd“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 12/24
Fluch der Stille
„Ruhestörung“ am TdK – Theater am Rhein 12/24
Freude und Bedrückung
35. Vergabe der Kölner Tanz- und Theaterpreise in der SK Stiftung Kultur – Bühne 12/24
Das Mensch
„Are you human“ am TiB – Theater am Rhein 12/24
Lang lebe das Nichts
„Der König stirbt“ am Schauspiel Köln – Auftritt 12/24
„Andere Realitäten schaffen“
Dramaturg Tim Mrosek über „Kaputt“ am Comedia Theater – Premiere 12/24
Vererbte Traumata
Stück über das Thiaroye-Massaker am Schauspiel Köln – Prolog 12/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
Biografie eines Geistes
„Angriffe auf Anne“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 11/24
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24