Küsse haben gelegentlich einen unangenehmen Beigeschmack. Schmatzer wie der von Judas und Jesus, der von Parsifal und Kundry oder Gorbatschow und Honecker gingen nicht ohne schmerzhafte Erkenntnisse ab: Einer muss den Scheiß ja machen (Jesus), der Sanitäter bin ich (Parsifal), Nachbars Tapeten sind auch meine (Honecker). Auch für den gut erzogenen und naiven Candide, den Helden in Voltaires gleichnamiger Satire, folgt dem Kuss seiner Kunigunde der Rauswurf aus dem Paradies. Dort hatte ihm ein Leibnizscher Gehirnwäscher eingeredet, in der besten aller Welten zu leben. Alles was passiert, habe seinen nachvollziehbaren guten Grund. Doch der Kuss mit der Tochter des Barons katapultiert Candide in eine Realität aus Krieg, Naturkatastrophen, Sklaverei, Mord und Totschlag, Erdbeben und damit mitten in den Urschlamm der menschlichen Niedertracht. Vermutlich sind die Menschen nicht fähig, die Welt lebenswert einzurichten, aber man wird ja nochmal träumen dürfen – am Theater Bonn wird Simon Solberg unsere Träume zerstören.
Ähnlich naiv und anständig sind auch die Helden in Hans Falladas 1932 erschienenem Roman „Kleiner Mann, was nun?“ Der Verkäufer Pinneberg und seine Frau Lämmchen wollen nichts weiter als ein angenehmes Leben in bescheidenstem Rahmen: „Es müsste hell sein bei uns und weiße Gardinen und alles immer schrecklich sauber.“ Große Ideologien und Gedankengebäude können die beiden gar nicht betreten, weil ihnen den Kampf ums Leben keine Zeit lässt. Pinneberg hat seine Stelle als Verkäufer verloren, mühsam eine neue gefunden, nur um dann an den Verkaufsquoten zu scheitern und endgültig arbeitslos zu sein. Susanne Schmelcher adaptiert am Theater am Bauturm den Roman nach der 2016 veröffentlichen Urfassung, die weit deutlicher die politischen Positionen der Figuren und die Milieus der späten 1920er Jahren ausmalt.
Als Weg in die bessere Welt galt lange die Revolution. Die Konjunktur solcher politischen Umbrüche ist zwar nicht weniger geworden, aber der Begriff wird inzwischen etwas vorsichtiger verwendet. Dass die Deutschen keinen Umsturz hinbekommen, ist inzwischen widerlegt. Doch für das Nö-Theater ist nicht 1989 das entscheidende Datum, sondern der Umsturz von 1918. Ein Datum, das im Gedenktaumel an Weltkriegsende, Marx-Geburtstag und 50 Jahre 1968 völlig unter die Räder gekommen sei. Ehrenrettung für die „Die hundertjährige Einsamkeit der Revolution“ ist also angesagt. Dass die Truppe um Janosch Roloff aus ihrer Revolutionsbegeisterung kein Hehl machen werden, davon ist auszugehen. Doch auch diese Revolution ist der Ausrufung der ersten deutschen Demokratie auf deutschem Boden zum Trotz mehr als nur widersprüchlich. Nach den Aufständen und der Einrichtung von Arbeiter- und Soldatenräten verbündete sich die SPD bald mit reaktionären Kräften, um die alten monarchischen Eliten nicht vollends zu erschrecken. Zu viel oder zu wenig Revolution – wie man’s macht, man macht‘s verkehrt.
„Candide“ | R: Simon Solberg | 14., 22.9. 19.30 Uhr, 30.9. 18 Uhr | Theater Bonn | 0228 77 80 08
„Kleiner Mann, was nun?“ | R: Susanne Schmelcher | 22.9.(P) 20 Uhr | Theater im Bauturm | 0221 52 42 42
„Die hundertjährige Einsamkeit der Revolution“ | R: Nö-Theater | 14.-16.9. 20.30 Uhr | Theater Tiefrot | 0221 460 09 11
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