Der Mann sei angeschlagen, und um sein Tiefrot-Theater stünde es nicht gut, so Stimmen aus der Kunstszene. Im Interview mit choices zeigt sich Schauspieler und Regisseuer Volker Lippmann jedoch lebensverliebt und voller Tatendrang.
choices: Herr Lippmann, wie geht es Ihnen?
Volker Lippmann: Fantastisch. Ich habe mittlerweile keine Hemmungen mehr. Dafür bin ich zu alt.
Keine Hemmungen? Zu alt? Das hat man auch in früheren Inszenierungen von Ihnen nicht vermutet, etwa in den intensiven Produktionen „Woyzeck“ oder „Der eingebildete Kranke“.
Das meine ich nicht. Man muss sich trauen, Dinge zu tun, die lange umgangen wurden.
Es ist kein Geheimnis, dass Sie gesundheitliche Probleme hatten. Spielen Sie darauf an?
Auch das. Klar, ich war lange alkoholabhängig, ich habe alle möglichen Drogen genommen. Aber ich habe niemanden erschossen oder betrogen. Meistens habe ich mich selbst belogen. Das ist vorbei. Es fühlt sich so an, als ob ich jetzt erst anfange zu leben und nicht zu schauspielern.
Ihr Ensemble kehrt mit einer Wiederaufnahme von Molières „Der eingebildete Kranke“ auf die Bühne zurück. Haben Sie das Stück bewusst als Reaktion auf die Corona-Krise ausgesucht?
Natürlich. Ich bin Jude und das Judentum hat einen sehr eigenen Humor, den ich gottseidank ebenfalls besitze. Da darf man auch mal das Gerede von all jenen, die sich als Experten betrachten, etwas zurechtrücken. Wir inszenieren zudem den „Diener zweier Herren“ von Carlo Goldoni. Auch die mehrere Male verschobene Uraufführung von E.T.A. Hoffmans „Der Sandmann“ steht an. Es hat alles einen Bezug zu den Dingen, die heute passieren.
Was hätte Molière künstlerisch aus der Pandemie gemacht?
Vermutlich eine Tragikomödie. Er hätte mit Lust, Wonne, Takt und Genauigkeit etwas dazu kreiert.
Wo liegen die Unterschiede zur Version des „Kranken“, die bereits vor mehreren Jahren bei Ihnen aufgeführt wurde?
Vor allem in der Location. Wir spielen Open Air im über dem Theater gelegenen Restaurant. Da kann allerhand Unvorgesehenes passieren, beispielsweise unidentifizierbare Flugobjekte über den Köpfen oder Nachbarn, die vom Balkon „Ruhe!“ brüllen. Der Hof ist eingerahmt, so dass kein Geräusch verloren geht. Ich verstehe die Produktion als Straßentheater mit viel Musik.
Das Tiefrot feiert im kommenden Jahr den 20. Geburtstag. Was verbinden Sie mit diesem Ort?
Dieses Theater ist kein Wunschkind von mir, sondern aus der Not zu einem Proberaum entstanden. Als ich für den WDR „Die Anrheiner“ drehte, brauchten wir aus logistischen Gründen eine Räumlichkeit. Dann haben wir unabhängig davon mit Brechts „Baal“ ein Stück aufgeführt, das ein Riesenerfolg wurde. Ich war aber direkt pleite, weil ich Riesengagen zahlte. (lacht) Danach gab es immer wieder Krisen. Ich weiß nicht, wie oft wir schon totgesagt wurden.
Apropos Krise, wie sehr haben Sie unter der covid-bedingten Schließung des Hauses gelitten?
Ach, es geht doch nicht um mich. Ich habe meine kleine Rente. Aber ich leide mit den Darsteller*innen, die lange keine Engagements hatten. Was mich richtig wütend gemacht hat, waren die Solidaritätsbekundungen für die „armen Schauspieler“ aus dem Mund von Leuten, die fernab der Realität leben [Anspielung auf die Kampagne #allesdichtmachen – d. Red.]. Das war eine unsägliche Kacke. Dann spende doch mal ordentlich was, Herr Liefers!
Haben Sie in der Kunstszene in den letzten Monaten ein soziales Miteinander erlebt?
Es gab schon da schon gutgemeinte Versuche. Zumindest hat mir die Pandemie nicht meine sozialistische Gesinnung genommen. Ich persönlich werde immer mein Ideal von Gerechtigkeit in der Welt hochhalten.
Sie rauchen und trinken nicht mehr. Woran berauschen Sie sich dieser Tage?
Ich bin seit einigen Jahren sehr verliebt. Damit rechnet man mit fast 70 nicht. Außerdem spielt die Musik in meinem Theaterverständnis nach wie vor eine große Rolle. Das ist wie bei den Stones: 'I know, it`s only Rock`n Roll but I like it', einfach unzerstörbar.
Der eingebildete Kranke | R: Volker Lippmann | 10.7., 15.7.-18.7., 31.7, 1.8., 6.8.-8.8. je 20 Uhr | Theater Tiefrot | 0221 460 09 11
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Saufen als Brauchtum
„Der fröhliche Weinberg“ am Theater Tiefrot – Prolog 08/22
Kurzer Prozess
Zuckmayers Drama am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 05/22
„Wir machen weiter!“
20 Jahre Theater Tiefrot – Prolog 04/22
Wolken sind aus <s>Poesie</s> Angst gemacht
„Störfall“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 01/22
„Eine Frau mit bemerkenswerten Ansichten“
Juliane Ledwoch über „Frida Kahlo – Erinnerung an eine offene Wunde“ – Premiere 01/20
Aufgewirbelter Staub und zahlreiche Fragen
„Die vergessene Revolution“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/18
Dreigroschen-Vampire auf Urlaub
„Die Dreigroschenoper“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 08/18
Bessere Welt?
Theater im September im Rheinland – Prolog 08/18
Madame la Mort
„Die Geschichte von den Pandabären“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 07/18
Die Sonne scheint nur
Sommertheater in Köln – Prolog 06/18
Höckes Mythos
„Inside AfD“ mit dem Nö-Theater – Theater am Rhein 12/17
Lachen, raufen, trauern
„Romeo & Julia“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 05/17
Tanzen gegen Rassentrennung
„Hairspray“ am Theater Bonn – Theater am Rhein 11/24
Biografie eines Geistes
„Angriffe auf Anne“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 11/24
Selbsterwählte Höllen
„Posthuman Condition“ am FWT – Theater am Rhein 11/24
„Die Hoffnung muss hart erkämpft werden“
Regisseur Sefa Küskü über „In Liebe“ am Orangerie Theater – Premiere 11/24
Kampf gegen Windmühlen
„Don Quijote“ am Theater Bonn – Prolog 11/24
Die ultimative Freiheit: Tod
„Save the Planet – Kill Yourself“ in der Außenspielstätte der TanzFaktur – Theater am Rhein 10/24
Die Maximen der Angst
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei – Theater am Rhein 10/24
Keine Macht den Drogen
„35 Tonnen“ am Orangerie Theater – Prolog 10/24
Wenn das Leben zur Ware wird
„Hysterikon“ an der Arturo Schauspielschule – Prolog 10/24
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Spam, Bots und KI
„Are you human?“ am Theater im Bauturm – Prolog 10/24
Die KI spricht mit
Franz Kafkas „Der Bau“ in der Alten Wursterei in Köln – Prolog 10/24
„Das Ganze ist ein großes Experiment“
Regisseurin Friederike Blum über „24 Hebel für die Welt“ in Bonn und Köln – Premiere 10/24