Das Schlachtvieh liegt bereit. Wie ein gelangweilter Haufen Fleisch ist Mackie Messer auf dem weißen Richtblock der Justiz mitten im Innenhof des Hotel Hopper drapiert. Der Gentlemanverbrecher als Intrigenopfer, der mit stoischem Gleichmut und provozierender Lässigkeit das Beil des Henkers erwartet. Doch was wäre eine Oper – und die Dreigroschenoper ist eine, wenn auch travestierte Oper – ohne ein Happy End? Der reitende Bote des Königs sorgt für ein „glückliches Ende“, das man sich gar nicht vorzustellen wagt.
Travestien brauchen kenntnisreiches Vertrauen. Vertrauen in das Ausgangsmaterial. Bei der „Dreigroschenoper“ ist das aber nicht mehr vonnöten. Sie ist längst die Travestie einer Travestie. Die Erkenntnis, dass Verbrechersyndikate wie Unternehmen funktionieren und einen Hang zu bürgerlichen Werten pflegen wie umgekehrt das Bürgertum einen Hang zu verbrecherischen Werte pflegt, ist ein durchgekauter Allgemeinplatz. Der Geniestreich von Bertolt Brecht und Kurt Weill ist inhaltlich abgegrast, ein lieber alter Bekannter, dem man vor allem der Songs wegen wiederbegegnet.
Die Gesichter der Darsteller in Volker Lippmanns Inszenierung sind weiß geschminkt mit blutrotem Rinnsal auf der Wange. Dreigroschen-Vampire, die nicht sterben können. Volker Lippmanns Mackie Messer im strahlend blauen Anzug mit schwarzer Melone ist ein gealterter Macho, mit Zügen eines müden Clowns, der aber seine Selbstverliebtheit nicht verbergen kann. Eher ein Spieler als ein Verbrecher, der seine frischgetraute Ehefrau mit routiniertem, gelangweiltem Charme umgarnt. Polly Peachum (Julia Karl) wirkt mit ihrem dreimaligen Kleiderwechsel (Kostüme: Dejan Radulovic) wie eine handfest auf ihr bürgerliche Glück zusteuernde Verbrechertochter – Schmolltendenz inklusive, wenn die Möbelstücke fürs gemeinsame Heim aus der IKEA-Tragetasche allzu billig aussehen, aber durchaus fähig zum knallharten Capo-Sprech, wenn sie Macheath‘ Organisation übernimmt.
Bettlerkönig Peachum ist bei Torsten Peter Schnick eine Blofeld-Karikatur mit Plüschstinktier, deren Stimme sarkastisch-weinerlich im Diskant Achterbahn fährt. Und Miss Peachum wird bei Ursula Wüstenhagen zur verlebten Alkoholikerin im heruntergekommenen 1920er Jahre-Chic, die aber doch so viel Verbrecher-Klassenbewusstsein besitzt, dass sie ihre Tochter nicht in den Händen eines Gangsterlebemanns wissen will. Und so nimmt der Plot um Mackie Messers Heirat mit Polly, der Tochter Peachums, und sein Verrat durch die Huren von Soho seinen Lauf. Wie in der Barockoper sind im Theater Tiefrot die ausgezehrten Dialoge nur noch Transportvehikel für die weltberühmten Ohrwürmer. Gesungen wird mit unterschiedlicher Qualität, nicht immer tonhöhensicher, gelegentlich auch zu leise, aber doch mit enormer Verve und Inbrunst, einfühlsam begleitet von Daniel Sojunom am Klavier und Herbie Hirsekorn am Schlagzeug. Dass Mackie Messer beim Applaus sich am Ende als Kellner verdingt, zeigt mehr als deutlich, zu was ein bürgerliches Happy End führen kann.
„Die Dreigroschenoper“ | R: Volker Lippmann | 31.8., 2., 5., 7.-9., 28., 30.9. 19.30 Uhr | Theater Tiefrot: im Garten des Hotel Hopper | 0211 460 09 11
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Saufen als Brauchtum
„Der fröhliche Weinberg“ am Theater Tiefrot – Prolog 08/22
Kurzer Prozess
Zuckmayers Drama am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 05/22
„Wir machen weiter!“
20 Jahre Theater Tiefrot – Prolog 04/22
Wolken sind aus <s>Poesie</s> Angst gemacht
„Störfall“ am Theater Tiefrot – Theater am Rhein 01/22
„Ich weiß nicht, wie oft wir schon totgesagt wurden“
Volker Lippmann über „Der eingebildete Kranke“ – Interview 07/21
„Eine Frau mit bemerkenswerten Ansichten“
Juliane Ledwoch über „Frida Kahlo – Erinnerung an eine offene Wunde“ – Premiere 01/20
Aufgewirbelter Staub und zahlreiche Fragen
„Die vergessene Revolution“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 12/18
Bessere Welt?
Theater im September im Rheinland – Prolog 08/18
Madame la Mort
„Die Geschichte von den Pandabären“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 07/18
Die Sonne scheint nur
Sommertheater in Köln – Prolog 06/18
Höckes Mythos
„Inside AfD“ mit dem Nö-Theater – Theater am Rhein 12/17
Lachen, raufen, trauern
„Romeo & Julia“ im Theater Tiefrot – Theater am Rhein 05/17
Wege in den Untergang
„Arrest“ im NS-Dokumentationszentrum Köln – Theater am Rhein 10/24
Bis der Himmel fällt
Franz Kafkas „Der Bau“ am Theater der Keller – Theater am Rhein 09/24
Feder statt Abrissbirne
„Fem:me“ in der Alten Feuerwache – Theater am Rhein 07/24
Der Untergang
„Liquid“ von Wehr51 – Theater am Rhein 07/24
Gefährlicher Nonsens
Kabarettist Uli Masuth mit „Lügen und andere Wahrheiten“ in Köln – Theater am Rhein 07/24
Den Schmerz besiegen
„Treibgut des Erinnerns“ in Bonn – Theater am Rhein 07/24
Alles über Füchse
„Foxx“ in den Ehrenfeldstudios – Theater am Rhein 07/24
Vergessene Frauen
„Heureka!“ am Casamax Theater – Theater am Rhein 06/24
Freiheitskampf
„Edelweißpiraten“ in der TF – Theater am Rhein 06/24
Menschliche Eitelkeit
„Ein Sommernachtstraum“ in Köln – Theater am Rhein 06/24
Die Grenzen der Freiheit
„Wuthering Heights“ am Theater im Bauturm – Theater am Rhein 06/24
Erschreckend heiter
„Hexe – Heldin – Herrenwitz“ am TiB – Theater am Rhein 05/24
Verspätete Liebe
„Die Legende von Paul und Paula“ in Bonn – Theater am Rhein 05/24