Sonntag, 16. Februar: Bereits um 11 Uhr vormittags wimmelt es im Foyer des Odeon-Kinos von Menschen. größtenteils Frauen im mittleren Alter. Sie alle sind gekommen, um die im März 2019 verstorbene Filmemacherin, Installationskünstlerin und Fotografin Agnès Varda zu ehren. Der Alptraum eines Filmemachers – „ein leeres Kino“ in Agnès Worten – hat sich mit rund 150 Gästen hier und heute nicht bewahrheitet.
„Varda par Agnès“ ist ein filmisches Selbstporträt, mit dem sich die 90-jährige Pionierin der Novelle Vague von dieser Welt verabschiedet. Als Filmemacherin, als Lebenskünstlerin. Eine Montage-Collage, welche sich größtenteils aus Mitschnitten ihrer letzten Auftritte und Filmausschnitten ihrer Werke in a-chronologischer Reihenfolge zusammensetzt. Kurz nach der Weltpremiere auf der Berlinale 2019 verstarb sie. Ihren finalen Film konzipierte sie um die Idee, „einen Film zu schaffen, der all ihre anderen Filme erklärt“. Ihre Standpunkte, ihre Suche nach Authentizität und „echten Menschen“. Ihr Bedürfnis, das Kleine ganz groß zu zeigen.
Das heutige Event „Von der Lust, die Welt zu bewohnen“ ist gleich mehrfache Herzensangelegenheit. Der Inhaber des Odeon, Jürgen Lütz, ist zugleich der Verleiher des Films. Als Gast angereist ist Didier Rouget. Ihn verbindet eine 30-jährige Freundschaft und Zusammenarbeit mit Agnès Varda. Eingeladen wurde er von dem Filmnetzwerk LaDOC, den Gastgeberinnen der Veranstaltung. Als ein Höhepunkt von LaDOCs Arbeit gilt das im Winter 2009/2010 stattfindende Special zu Ehren von Agnès Varda, bei dem sie selbst zu Gast war. Eine Fotoausstellung im Kinocafè mit Bildern von Angelika Huber zu ebendiesem Special dokumentiert ihren hiesigen Besuch vor 10 Jahren.
Im ersten Teil von „Varda par Agnès“ war Didier Rouget als Co-Regisseur tätig. Wobei er augenzwinkernd im Werkstattgespräch zugibt, dass eine Tätigkeit als Co-Regisseur mit einer Ikone wie Agnès Varda an der Seite eigentlich unmöglich sei. Zu speziell seien ihre Vorstellungen, zu eigen ihre filmische Handschrift. Aus diesem Grund haben sich ihre Wege nach dem ersten Teil des Films – jenem, der sich mit ihren Werken des analogen Films auseinandersetzt – erstmal getrennt. „Letztendlich wollte sie einen Agnès-Varda-Film produzieren“, verrät Rouget, „und das konnte schließlich nur sie selbst.“
Eines ihrer Talente habe darin bestanden, die guten Ideen ihrer Mitarbeiter auszuwählen und auf ihre eigene Weise umzusetzen. Wie die Idee den Weg der Protagonistin in „Cléo – Mittwoch zwischen 5 und 7“, der im Original in Echtzeit zu Fuß durch Paris zurücklegt wird, für „Varda par Agnès“ mit einem Auto nachzufahren. Dieser Plan findet seine strukturelle Entsprechung in der wiederinszenierten Kamerafahrt des Films „Vogelfrei“, die entgegen westlicher Sehgewohnheiten von rechts nach links verläuft. „Am Anfang des Films“, so Rouget, „stand die Entscheidung ausgewählte Werke von Agnès mithilfe einer ausgesuchten cinematografischen Methode, einer zentralen lustigen Idee vorzustellen.“ Zur Realisierung einiger dieser Ideen, besonders derer, die spontan hinzukamen, sei es aufgrund ihres sich verschlechternden Gesundheitszustandes während der Dreharbeiten jedoch nicht mehr gekommen.
„Agnès Varda ist in erster Linie nicht eine Filmemacherin gewesen, sondern eine Künstlerin!“, meint Rouget. Die meisten Filmemacher hätten als Ausgangsmaterial immer ein Skript an der Hand. Agnès Herangehensweise sei anders gewesen: Sie filmte zuerst und fand dann anschließend im Schneideraum das eigentliche Thema. „Sie war wie ein Kind. Und ihr Spielplatz war der Schnittraum“, überlegt Rouget. „Jugend hat für mich kein Alter. Agnès war immer eine junge alte Frau.“ Sie habe stets versucht in der Gegenwart zu verweilen.
Deshalb war für sie ein Film auch nie fertig, wenn man ihn immer wieder aus aktueller Perspektive betrachtete. Vielleicht war dieses Streben nach Gegenwärtigkeit auch der Grund dafür, warum sie, wie Rouget erzählt, am Vortag ihres Todes noch, umringt von Freunden, damit beschäftigt war Fotografien zu beschriften: Aufnahmen der Hände von ihr bekannten Paaren. „Alles was sie tat, tat sie mit Zuneigung und Humor.“ Und wenn sie den letzten Satz ihres letzten Films spricht, so klingt es, als habe sie dabei ein Lächeln auf den Lippen. Das Meer rauscht, Sand verweht die Spuren und Agnès verlässt uns – verabschiedet sich „in die Unschärfe“.
„Varda par Agnès“ ist seit dem 6. Februar in ausgewählten deutschen Kinos zu sehen. Die Projekte und Lectures von LaDOC sind angewiesen auf Spenden. Das unabhängige Frauen-Netzwerk freut sich über neue und alte Unterstützer.
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