Irgendwann während meiner Studienzeit in den frühen Nullerjahren erzählte mir ein Bekannter eine Anekdote. In der ersten Vorlesung des ersten Semesters habe der Dozent den anwesenden Studierenden der Germanistik Folgendes für ein erfolgreiches Bestehen ihres Studiums geraten: „Bleiben Sie zwei Jahre im Bett und lesen Sie ein paar Bücher.“ Es ist eine dieser Geschichten, deren Vieldeutigkeit man erst später im Leben versteht. Denn oberflächlich betrachtet ist der Rat ja nicht dumm. Als Germanist sollte man ein paar Bücher gelesen haben, am besten auch noch „die richtigen“ – also Goethe, Wieland, Marx und Arno Schmidt und dann am besten auch noch die im Dekadentakt wechselnden Theoretiker, die diesen Kanon regelmäßig wiederbeleben. Zwei Jahre dürften dafür zwar nicht ausreichen, aber es ist ein Anfang.
Witz auf Kosten einer Minderheit
Aber wenn man ein wenig ehrlich ist, dann wird einem auch klar, dass dieser Witz auf Kosten einer im Raum anwesenden Minderheit geht: derjenigen Studierenden, bei denen zwei Jahre konzentrierte Lektüre ohne Scheinerwerb mit dem Entzug der BAFöG-Leistungen bestraft würde. Das sind an deutschen Unis immerhin 617.000 Studierende, und ein nicht geringer Teil von diesen dürfte zu denen gehören, die keine Akademiker-Eltern haben.
Was aber hat das alles mit dem doppelten Abijahrgang zu tun? Schaut man zurück auf die Debatte um die Einführung des acht Jahre dauernden Gymnasiums, dann sticht eine Argumentation gegen die Verkürzung besonders heraus. Acht Jahre Gymnasium überfordere die Schüler, ihnen bliebe keine Zeit für die wichtigen Erfahrungen Heranwachsender – Arno Schmidt zu lesen zum Beispiel. Stattdessen züchte man sich eine Generation angepasster, auf Leistung getrimmter Jugendlicher heran, denen kritisches Denken systematisch ausgetrieben werde. Es ist eine Variation über ein Thema. Denn wie so häufig in Deutschland zeigt sich erst in der Debatte, wer sie eigentlich führt, und wer dort mit wem spricht. Die ausgeschlossenen Dritten der G8-Debatte sind diejenigen, die durch unser hochselektives Bildungswesen systematisch davon ferngehalten werden, das, was die G8-Gegner als „kritisches Denken“ bezeichnen, überhaupt erwerben zu dürfen.
Diese Verengung der Debatte hat eine lange Tradition. Erzählungen über das Studentenleben 1968ff sind Legion, diejenigen über die Lehrlingsbewegung im gleichen Jahr dagegen selten. Und wenn der bildungsbürgerliche Nachwuchs mal wieder erfolgreich gegen Studiengebühren protestiert, ist nur eine Minderheit bereit, die Forderung nach „freier Bildung für alle“ auch auf Kindergärten auszudehnen. Und so setzen sich auch in der Debatte um das G8-Gymnasium die „verdeckten Verletzungen von Klassenzugehörigkeit“ (Richard Sennett) fort. Wer die eigene Schulzeit mit neun Jahren Gymnasium zur bildungspolitischen Idylle verklärt, der mag sich zwar ehrlich und aufrichtig um die Folgen für die Schüler sorgen. Aber sollte dann auch so ehrlich zuzugeben, dass es sich dabei zuerst um den Nachwuchs der eigenen Schicht handelt.
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