Für viele fängt Fremdgehen beim Kuss an, für andere ist im Bett (oder auf der Clubtoilette) die letzte Grenze überschritten. Manche sagen, Untreue beginne bereits im Kopf, doch noch bleiben Gedankenverbrechen, auch die moralischen, ein Ding der Science-Fiction. Diesen Ansichten ist gemein, dass das Verbrechen am Versprechen zur gemeinsamen Lebensgestaltung mit dem Körperlichen einhergeht. Ist das nicht ein bemerkenswerter Widerspruch? Die feste Beziehung und ihr zertifizierter Zwilling, die Ehe, sind Konzepte, die Vertrauen und Verbindlichkeit auf so vielen Ebenen fordern. Zeit und Privatsphäre, Besitz, Gedanken- und Gefühlswelten verschmelzen. Und auch wenn es heute nur selten der Tod ist, der scheidet, so ist eine ernsthafte Beziehung immer noch ein Projekt mit Investitionen auf Jahre hinweg. Diese heilige Bande (Femininum) – die Erinnerungen und Träume zweier Menschen, ihre Immobilien, Kinder und Steuerklassen – soll nun an einem dünnen Bande (Neutrum) hängen, das sich durch profane Beckenstöße trennen lässt? Das erscheint nicht durchdacht. Machen eine Beziehung denn nicht die gemeinsamen Momente aus? Die Interessen, die man teilt, die Gedanken, die man austauscht, die Ideen, die man gemeinsam entwickelt? Eine Liebesbeziehung, das ist das Tiefmenschliche und Tiefemotionale. Und zerstört werden soll das durch das das Oberflächlich-Animalische? Was sagt das über das Fundament unserer Gesellschaft aus?
In oberflächlicher Gesellschaft
Beginnt die Gefährdung der eigenen Beziehung also schon, wenn der Partner bloß platonische Aktivitäten mit einem potenziellen Geschlechtskonkurrenten ausübt? Ist Zweisamkeit außerhalb der Ehe tabu? Das wiederum erscheint wie ein krasser Widerspruch zu einer Gesellschaft der sich selbst verwirklichenden Individuen. Die Beziehung wird zum goldenen Käfig. Von seiner Peergroup und seinen Lieblingsinfluencern lässt man sich ja vieles an Lebensgestaltung vorschreiben, aber vom Partner? Niemals! Dann lieber Single.
Zumindest einen dieser Widersprüche aufzulösen verspricht das Konzept der offenen Beziehung. Sex außerhalb der Paarbeziehung ist hier erlaubt, unter Umständen auch romantische Nebenbeziehungen, denn Begierde entlädt sich nicht immer auf besagter Clubtoilette, sondern erfordert bisweilen etwas buhlen und hofieren. Das wortwörtliche Herantasten an den anderen braucht schon ein paar Treffen. Nicht ins Hintertreffen geraten hingegen soll der eigene Partner durch Regeln, die für die Nebenbeziehungen gelten – und durch die Gewissheit, dass man immer wieder zurückkommt. Ein Seitensprung resultiert nicht zwangsläufig aus einer Weg-von-Motivation (weg von der/dem nervigen Alten), sondern eventuell aus einer Hin-zu-Motivation: hin zu einem attraktiven Menschen. Hin zu Abenteuer. Hin zum Funken des Flirts. Dann aber zurück in das heimische Nest der herzlichen Liebe. Und wer weiß, vielleicht entfacht jener Funke auch wieder die Flamme der körperlichen Lust zu Hause aufs Neue?
Überfordert in der Beziehung
So eine Beziehung erfordert viel Vertrauen und noch mehr Kommunikation. Grenzen müssen klar gesetzt und immer wieder neu verhandelt werden. Bedürfnisse und Ängste gehören besprochen und respektiert. Mit alldem sind die meisten Menschen schon bei der klassischen Version einer Beziehung mit ihren standardisierten unausgesprochenen Regeln überfordert. Und da sprechen wir noch gar nicht vom Ego und von Eifersucht! Und wie ist das mit dem Funken, der etwas zum Lodern bringt? Erinnern Sie sich noch, wie Sie Ihren jetzigen Partner kennengelernt haben? Was machen Sie denn, wenn da auf einmal zwei Feuer brennen?
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wahlverwandt
Intro – Beziehungsweisen
Durch dick und dünn
Teil 1: Leitartikel – Warum zum guten Leben gute Freunde gehören
„Was nicht erlaubt ist: Druck ausüben“
Teil 1: Interview – Autor Sebastian Schoepp über Freundschaften
Ankommen zu zweit
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Verein Start with a Friend knüpft Kontakte für die Einwanderungsgesellschaft
„Bin ich eifersüchtig oder eher neidisch?“
Teil 2: Interview – Paarberaterin Sonja Jüngling über sexuelle Kontakte außerhalb einer Paarbeziehung
Nach dem Vertrauensbruch
Teil 2: Lokale Initiativen – Therapeuten-Netzwerk besserlieben berät auch zu offenen Beziehungen
Pippis Leserinnen
Teil 3: Leitartikel – Zum Gerangel um moderne Lebensgemeinschaften
„Mit dem ersten Kind nimmt die Ungleichheit zu“
Teil 3: Interview – Soziologe Kai-Olaf Maiwald über Ehe, Familie und Geschlechterverhältnisse
Einander Zeit schenken
Teil 3: Lokale Initiativen – Das Nachbarschaftsheim Wuppertal
Zurück in die Freiheit
Geringe Rückfallquote bei Strafgefangenen – Europa-Vorbild Norwegen
Nur die Lokomotive
Verloren zwischen Bett- und Lebensgeschichten – Glosse
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 1: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Der andere Grusel
Teil 2: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 1: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Wildern oder auswildern
Teil 2: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier