Das Café Fleur in der Lindenstraße ist vollgerammelt mit literaturbegeisterten Menschen. Frauenanteil: 80 Prozent. Den männlichen Gast neben mir scheint das zu freuen. Er findet, man bräuchte gar nicht mehr zu tindern: Hier gäbe es schließlich eine viel bessere Auswahl. Seit drei Jahren nun schon lässt die Initiative „Land in Sicht“ einmal im Monat junge talentierte SchriftstellerInnen ihre literarischen Ergüsse auf der Bühne präsentieren. Und das mit Erfolg. Die jungen Autoren werden entweder eingeladen oder bewerben sich selber mit Texten, um dann ausgewählt zu werden.
Den Anfang macht an diesem Abend Carla Hegerl, die ein absurdes, zerstückeltes, lyrisches Wortgewitter von sich gibt. Die Autorin aus München, die zunächst Biologie studierte, um sich dann am Literaturinstitut Leipzig nach den körperlichen Studien auf geistiger Ebene weiterzuentwickeln, liefert dem Publikum Einblicke in postmoderne, dekonstruierte, apokalyptische Lyrik, in der es von ironischen Anglizismen, überzogenem „Denglisch“ und „amazings“ nur so hagelt. Eine groteske Anspielung auf das Lebensgefühl der Postmoderne mit essentiellen Themen wie der Befriedung der Tiefsee, Konsum, Klima, Popcorn und Langeweile. Alles und nichts eben. Eigene stilvolle Wortkreationen inklusive, die trocken und unemotional aus ihr herauspoltern, was ihrer Poesie eine gewisse Coolness verleiht. Das Publikum lacht stellenweise laut auf, und so erstaunt es nicht, dass Hegerl schon den einen oder anderen Preis gewann.
Gefolgt von Nora Linnemann, die einen Auszug aus ihrem Buch vorliest, das sie aktuell verfasst. Arbeitstitel: „kurzschließen“. Der Roman der Autorin und Schauspielerin porträtiert mit Augenzwinkern die Probleme eines WG-Lebens, Stadtviertels sowie der Generation X(Y). Eine Generation, die, zwischen Boreout und Burnout hin- und herschwimmend, nicht recht weiß, welche Produkte sie im Supermarkt wählen soll und ob es nicht doch klüger gewesen wäre, dabei vielleicht einen Einkaufswagen zu benutzen. Das Drama liegt hier im Alltäglich-Banalen: Es geht um Beliebtheitskriege zwischen Chips und Flips, um einen dramatischen Überfall auf den „Ficke-Dich-Döner-Laden“, um die Qual der Wahl bei Produkten, die in einem wilden Supermarktszenario endet. Und um ein Rendezvous mit dem Tod. So schreibt Linnemann: „Gregor hatte gerade herzhaft in sein Kebap gebissen, eine Menge unzerkauter Krautsalat befand sich in seinem Mund, als der Dönermann dem Räuber mit den sehr ruhig und deutlich artikulierten Worten ‚ficke dich‘ entgegnete und weiter Fleisch vom Spieß hobelte. Der Laden schnappatmete kollektiv ein, Gregor sog versehentlich einen Faden Krautsalat in die Luftröhre und fing an zu röcheln. In diesem Augenblick, behauptet er, wäre sein Leben an ihm vorbei gezogen.“
Kontrastiv dazu – und von Gegensätzen lebt der gesamte Abend – liefert David Krause gefühlvolle Lyrik mit Tiefgang. Für das überwiegend weibliche Publikum gibt es offenbar nur einen männlichen Poeten an diesem Abend. Der aus Köln stammende 29-Jährige ist kein Mann der vielen Worte, dafür aber einer mit rheinischem Akzent. Krause, der ursprünglich Lehramt studierte, schrieb bereits als Kind und widmet sich seit nunmehr neun Jahren professionell der Dichtung. Mit seiner sehnsuchtsvollen, sehr emotionalen und symbolträchtigen Lyrik, die sich mit Phänomenen wie Zeit und Erinnerung beschäftigt, gelingt es ihm, das Publikum im Nu für sich zu gewinnen.
Zu guter Letzt bringt die Soziologin und Theaterwissenschaftlerin Jennifer Lütten-Klein einen Generationenkonflikt in Form eines Dialogs auf die Bühne, der gleichzeitig auch das Thema Ost und West umspannt. Stalin inklusive. Unterschiedlicher könnten Texte kaum sein, aber genau darin liegt der Reiz.
Land in Sicht ist mit dieser Mischung aus Fi(c)k(e-Dich)tivem, Historischem, Lyrischem und amazing Postmodernem ein abwechslungsreicher literarischer Abend gelungen, der zeigt, dass es sie (doch) gibt: Nachwuchsautoren.
Land in Sicht – Lesereihe für Junge Literatur | Café Fleur | www.landinsicht.koeln
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