Man mag zu den Schweiger-Tatorten stehen, wie man will, aber ein Gutes hatten sie: Sie haben mal eben mit mächtig Bumm-Bumm das allsonntagliche, deutschlandweite Sesselgefurze übertönt und den festgefahrenen Sehgewohnheiten die trüben Augen verblitzt. Herrlich! Was für ein Kuckucksei. Den betriebsblinden Deutschtümlern untergeschoben, die es auch noch höchstselbst mit ihren GEZ-Gebühren ausgebrütet haben. Schade nur, dass es für ein Erweckungserlebnis die Qualität dann doch nicht reichte: Die Action zu bieder, die Story zu belanglos und der Cast von Schweiger über Schweiger bis zur Fischer nicht mehr als ein hohles Argument, um den Kämmerer zu beschwichtigen, war weder ein Überraschungserfolg drin, geschweige denn ein Wimpernzucken bei Freunden explosiver Plots. Leider zu erwarten. Dabei sollte der Hauptreiz, eine Verpackung zu öffnen, doch darin bestehen auf Unerwartetes zu stoßen – auch oder auf jeden Fall zwischen Buchdeckeln:
Ein (farben)prächtiges Beispiel dafür sind Kay Nielsens Illustrationen des Kinderbuchklassikers „Östlich der Sonne und westlich des Mondes“ [Taschen] aus dem Jahre 1914. Hat man Jugendstil und Toulouse-Lautrec-Kitsch auch mit Mitte 20 über, so sieht man die viel zu unbekannten skandinavischen Märchen nicht zuletzt durch die ‚fantastischen‘ Aquarelle selbst jenseits der abgeklärten 40 mit riesengroßen Kinderaugen. / Bei Henry Matts fotografischen „Short Stories“ [Kehrer] muss man sich hingegen (mit Elvis) erst mal ein wenig eingrooven. Im letzten Jahrzehnt vermeintlich schon tausendmal gesehen, entwickeln die plakativen Stills jedoch alsbald eine literarische Dynamik, die in ihrer Erzählstruktur bei gleichzeitiger Fantasiefreiheit dem Titel alle Ehre erweist. / Nicht viel anders ergeht es dem Hörer bei Dietmar Wunders ‚körniger‘ Lesung von James Lee Burkes „Glut und Asche“ [Random House Audio]. Aber von wegen eindimensionaler Hard-Boiled-Pulp: Das staubtrockene texanisch-mexikanische Grenzgebiet liefert das perfekte Lokalkolorit, um dem abgeklärten Sheriff, seiner toughen Assistentin, sämtlichen Gangstern und nicht zuletzt der US-Politik die Wahrheit aus den Poren zu treiben.
Ist Burke ein Virus, so ist Michail Bulgakow ein Trojaner. Und seine „verfluchten Eier“ [dtv] erst recht, wenn der Zoologieprofessor Pfirsichow – der Kopf ein Hammer, der rechte Zeigefinger eine Sichel – den roten ‚Strahl des Lebens‘ entdeckt. Ein gefundenes Fressen für dummdreiste Medienfuzzis und auszeichnungsgeile Funktionäre sowieso. Noch lachen wir sozialkapitalistischen Bessermenschen drüber … / … doch schon mehren sich die Befürchtungen selbst unter Neofolkbebärteten und kunsthistorischen Kofferträgerinnen, dass der ‚Strom‘ aus „Mesopotamien“ [Suhrkamp] & Co. ihnen ihre ach-so-anarchistische aber kulturgeförderte Zukunft aus den von Mami und Papi gefüllten Portemonnaies spülen könnte. Gott, wie erhellend sind gegen derartiges Platzhirschgebaren Serhij Zhadans Erzählungen gebeutelter aber stolzer Seelen. / Aber keine Sorge, meine selbstgerechten Weltbürger. Eure angsterfüllte Geisteshaltung nennt sich self-fulfilling prophecy, auf dass alsbald wie in Ryan Gattis‘ dräuendem L.A.-Riots-Epos „In den Straßen die Wut“ [Rowohlt] regiert; düsterer, böser, auswegloser als jeder Schweiger-Tatort, über den man sich so wunderbar nonchalant das Maul zerreißen kann.
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