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Tobias Hauschild
Foto: Mike Auerbach

„Zeit für mehr Multilateralismus“

10. Juni 2020

Entwicklungsfinanzierungsexperte Tobias Hauschild über Armutsbekämpfung

choices: Herr Hauschild, das erste Ziel der Agenda 2030 der UN lautet: Armut in all ihren Formen bekämpfen. Welche Formen?

Tobias Hauschild: Es gab ja einen Vorgänger der Nachhaltigkeitsagenda, das waren die Millenniumsziele. Da wurde der Begriff Armut noch klar fokussiert als extreme Armut definiert, also als der Anteil der Menschen, die von weniger als 1,25 US-Dollar am Tag leben – heute liegt diese Grenze bei 1,90 US-Dollar. Diesen Anteil wollte man bis 2015 halbieren. Heute ist man ambitionierter und will extreme Armut bis 2030 ganz beseitigen. In dem neuen Zielkatalog, der 2015 verabschiedet wurde, den nachhaltigen Entwicklungszielen (Sustainable Development Goals, SDGs), steht nun ein erweiterter Armutsbegriff – das ist ein Fortschritt, da sie nicht nur den globalen Süden, sondern auch den globalen Norden einbeziehen, das heißt, die Ziele gelten auch für Deutschland. Darin steht, dass Armut in allen Dimensionen auf nationaler Ebene bekämpft wird, das würde für Deutschland heißen, relative Armut zu bekämpfen. Es gibt hier sehr große Vermögens- und Einkommensunterschiede: Wir haben einen hohen Anteil von in Armut lebenden Menschen, die über weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens verfügen. Insofern sind die SDGs auch ein Aufruf an Deutschland. Es geht aber auch um weltweite Bildungsarmut, um Zugang zu Gesundheitsversorgung, um das Verwehren von Rechten, etwa auf wirtschaftliche Ressourcen, grundlegende Dienste und Grundeigentum – das spielt alles eine Rolle, wenn bei den UN von Rechten und Armut geredet wird.

Extreme Armut bis 2030 zu beseitigen ist ein ambitioniertes Ziel. Welche Strategie wurde vor der Pandemie verfolgt?

Wir von Oxfam, wie auch internationale Institutionen wie die Weltbank und der IWF, sagen, dass man Armut nur beseitigen kann, wenn man die Wohlstandsgewinne gerechter verteilt. Wir beobachten, dass von den Wohlstandsgewinnen der letzten Jahrzehnte überproportional das obere Prozent der Wohlstandspyramide profitiert hat und unten zu wenig angekommen ist. Es gibt Erfolge in der weltweiten Armutsbekämpfung seit 1990, das erkennen wir auch an, aber man könnte schon weiter sein, wenn man Ungleichheit stärker bekämpft hätte, das haben auch die UN erkannt. Deswegen beschäftigt sich das zehnte Entwicklungsziel (SDG 10) mit dem Thema Ungleichheit und es geht darum, dass nun vor allem die ärmsten 40 Prozent der Weltbevölkerung von Wohlstandsgewinnen profitieren sollen. Extreme Armut werden wir nicht besiegen können, wenn wir nicht auch die Ungleichheit angehen, das ist auch der Standpunkt der Weltbank. Die Frage stellt sich natürlich noch mehr, wenn man die planetarischen Grenzen berücksichtigt, denn das Ganze fußt natürlich auf einem Wachstumsmodell – wir werden aber nicht ewig ungebremst wachsen können, darum muss man Verteilungswege im Rahmen dieser planetaren Grenzen finden.

Wie weit waren die Bemühungen gediehen?

Es gab durchaus in vielen Teilen der Welt eine lebhafte Diskussion um die Erkenntnis, dass wir etwas gegen Ungleichheit tun müssen, um Armut bekämpfen zu können. Die Frage ist, wie setzt man diese Erkenntnis in die Tat um, da sehen wir erhebliche Lücken. Etwa in der internationalen Steuerkooperation, um nicht so viel Geld in Steueroasen verschwinden zu lassen. Letztendlich muss man den Kampf gegen Armut und Ungleichheit mit mehr Konsequenz betreiben. Deutschland etwa hat sich verpflichtet, 0,7 Prozent seines Bruttoinlandsproduktes für Entwicklungsfinanzierung bereit zu stellen, da sind wir aber noch lange nicht. Da müsste mehr getan werden, ebenso in den Fragen von Klimaschutz und Konsum. Die Frage des Umweltschutzes ist eine globale Frage, auch da sehen wir Handlungsbedarf.

In der Corona-Krise gibt es Befürchtungen, dass die Pandemie global gesehen Ungleichheit verstärken wird.

Man kann davon ausgehen, dass die Weltgemeinschaft sehr zurück geworfen wird. Wir hatten seit 2000 durchaus positive Jahre, in denen die Armutszahlen sehr stark zurück gegangen sind, etwa in China oder Indien, auch, wenn auch weniger stark, in den Ländern südlich der Sahara. Aber schon vor der Krise gab es eine Stagnation und solche Effekte werden jetzt natürlich verstärkt. Vor der Krise ging man von einer Zahl von rund 740 Millionen Menschen aus, die in extremer Armut leben, nun könnten es bis zu 440 Millionen mehr werden. Das wäre ein enormer Anstieg. Auch jetzt sehen wir schon bestimmte Auswirkungen – durch den Stillstand der Wirtschaft hatten die afrikanischen Länder allein in März etwa einen Verlust von 29 Milliarden US-Dollar zu verzeichnen, das entspricht dem gesamten Bruttoinlandsprodukt von Uganda. Das ist natürlich fatal, weil die Investitionen für die Armutsbekämpfung in den Ländern drastisch reduziert werden. Gerade jetzt müssten in diesen Ländern Rettungspakete geschnürt werden, wie bei uns auch. Diejenigen, die unter der Krise leiden, sind die, die sowieso nicht viel haben: Die, die im informellen Sektor in sehr unsicheren Verhältnissen arbeiten, Kleinbauern, die normalerweise ihre Produkte auf lokalen Märkten verkaufen, die jetzt geschlossen bleiben. Andere sind durch den Verlust der Arbeit direkt von Hunger bedroht, weil sie einen Großteil ihres Einkommens für Nahrung aufwenden. Es gibt eine sehr interessante Untersuchung des Internationalen Währungsfonds, der frühere Pandemien in den Blick genommen hat: In allen Fällen ist die Ungleichheit im Anschluss gestiegen, denn Pandemien treffen die Verletzlichsten zuerst.

Welcher Mechanismus steht hinter dieser Entwicklung?

Das betrifft natürlich das Einkommen, hat aber ganz viele Dimensionen. In vielen Ländern etwa fallen Schulgebühren an, die dann nicht mehr bezahlt werden können, oder staatliche Bildungsangebote können nicht mehr finanziert werden. Also müssen die Kinder von der Schule genommen werden und der Zugang zu Bildung ist nicht mehr gewährleistet. Viele Entwicklungsländer haben auch ein nur schwach ausgebildetes Gesundheitswesen, und wenn diese nicht für alle zugänglich sind, und nur noch die eine gute Gesundheitsversorgung bekommen, die sie sich leisten können, verstärkt es die Ungleichheit natürlich enorm. Das führt zu einem Teufelskreis, in dem sich die Ungleichheit immer weiter verstärkt.

Die UN stellten Ende März einen globalen humanitären Notfallplan vor. Welche Maßnahmen beinhaltet er?

Erstmal war es sehr positiv, dass die UN so schnell reagiert haben. Bei einem Umfang von 2 Milliarden ging es auch in die richtige Richtung. Es ging ja erstmal darum, in Flüchtlingslagern medizinische Hilfsgüter zur Verfügung zu stellen, Anlagen zum Händewaschen, Informationskampagnen und Luftbrücken zu starten, Logistikzentren aufzubauen, Diagnosezentren oder Labore zur Verfügung zu stellen. Es ist richtig, die Situation in den Flüchtlingscamps zu verbessern, aber das kann natürlich nur der Anfang sein – die finanzielle Herausforderung ist viel größer. UNCTAD, die UN-Organisation, die sich mit wirtschaftlichen Fragen beschäftigt, schätzt den Finanzierungsbedarf in den armen Ländern der Erde auf 2,5 Billionen US-Dollar. Wir müssen also viel größer denken, um in den einzelnen Ländern Rettungspakete zu schnüren und eine soziale Sicherung zu schaffen, die es in vielen Ländern nur rudimentär oder gar nicht gibt.

Der IWF stellt armen Staaten Notkredite und Schuldenerleichterungen in Aussicht. Ein geeignetes Mittel?

Ich glaube, das ist genau die Frage der Zeit: Ich fühle mich ein wenig an die Finanzkrise erinnert, danach kamen auch viele Dinge zur Sprache, die eine große Wirkungsmacht hätten entfalten können. Im Grunde geht es jetzt darum, möglichst schnell Finanzressourcen in den Ländern freizusetzen. Da gibt es verschiedene Möglichkeiten. Ein ganz zentrales Instrument ist ein umfassender Schuldenerlass. Der IWF und die G20 haben ein Schuldenmoratorium eingeleitet, so dass die armen Staaten 2020 keine Schulden zurückzahlen müssen, aber trotzdem verfallen diese Schulden nicht, sie sind nur aufgeschoben. Wenn man sieht, dass Ghana elfmal mehr für Schuldenrückzahlungen aufwendet, als es für Gesundheitsversorgung ausgibt, merkt man, wie groß die Herausforderung ist. Wir brauchen stattdessen einen wirklichen, umfassenden Schuldenerlass, denn die Krise wird uns ja noch deutlich länger beschäftigen, ihre wirtschaftlichen Auswirkungen werden nach 2020 genauso virulent sein. Es geht darum, auch private Gläubiger ins Boot zu holen, das geht letztlich nur mit internationaler Kooperation. Jetzt ist die Zeit für mehr Multilateralismus, um eine globale Antwort auf die Krise zu finden. Bei finanzieller Unterstützung etwa spielt es eine ausgesprochen wichtige Rolle, dass die Konditionen günstig sein müssen. Am besten sind nicht zurückzuzahlende Zuschüsse, um die Schuldenspirale nicht einfach nur zu verschieben, sondern tatsächlich Gelder bereitzustellen.

Auch die Weltbank kündigt ein Hilfsprogramm an. Handeln die internationalen Institutionen koordiniert oder kommen sie sich „ins Gehege“?

Das ist schwer abzuschätzen, weil inzwischen natürlich alle Organisationen aufgefordert sind, eine Antwort auf Corona zu finden und alle handeln müssen. Wichtig ist eben, dass es gemeinsame Vorgaben gibt. Um beim Thema Schuldenerlass zu bleiben: So etwas bekommt man natürlich nur durch, wenn alle an einem Strang ziehen. Es muss gemeinsame Vorgaben geben, nach denen sich alle zu richten haben. Bei dem Schuldenmoratorium etwa war die Weltbank nicht dabei und natürlich müsste sie dabei sein. Die Antwort kann nur in einem funktionierenden Multilateralismus liegen, indem sich alle aufeinander abstimmen und gemeinsam handeln.

Die Pandemie-Anleihen der Weltbank stehen mittlerweile in der Kritik – eine kontraproduktive Maßnahme?

Diese Anleihen sind ja vom Prinzip her eine Art Finanzwette auf den Nichtausbruch einer Pandemie. Wenn Sie diese Anleihen kaufen und keine Pandemie ausbricht, behalten Sie ihr Geld und bekommen Zinsen dafür. Bricht die Pandemie aber aus, werden die Beiträge fällig und das Geld ist weg, das wird dann in die Pandemiebekämpfung gesteckt. Die Erfahrungen beim Ebola-Ausbruch 2014 im Kongo haben jedoch die Mängel dieser Anleihen aufgezeigt, denn an diese ist eine Vielzahl von Bedingungen geknüpft – es muss etwa eine bestimmte Zahl an Todesopfern geben, es müssen Nachbarländer betroffen sein und so weiter. Das war im Kongo nicht gegeben, also wurden die Gelder nicht ausgeschüttet. Ich finde das zynisch – es braucht schnelle und prompte Hilfe, das Geld muss schnell bereitgestellt werden und ich habe große Zweifel, dass dieses Instrument das leisten kann.

Liegt in der Krise auch eine Chance für die Bekämpfung von Armut?

In jeder Krise liegt ja eine Chance, heißt es. Auch vorher gab es ja schon Handlungsdruck, in der Klimakrise etwa, das sind Dinge, die natürlich weiterverfolgt werden müssen. Wir versuchen, international viel zu bewegen und künftigen Krisen entgegenzuwirken. Also ist es etwa wichtig, dass Gegenmaßnahmen in der Corona-Krise auch klimagerecht sind, oder dass Unternehmen ihrer sozialen Verantwortung gerecht werden. In Dänemark etwa ist es so, dass Unternehmen mit Sitz in Steueroasen keine staatliche Hilfe in Anspruch nehmen dürfen – die sind nämlich ein Riesenproblem, weil armen Ländern durch Steuervermeidung von Konzernen im Jahr mehr verloren geht, als sie an Entwicklungshilfe erhalten. Man kann sagen: Lasst eure Geschäfte in den Steueroasen sein, wenn ihr Hilfe in Anspruch nehmt, man kann Anreize für klimaneutrales Wirtschaften setzen. All das ist möglich und wir können dafür sorgen, dass es ein anderes Denken gibt. Vor allem aber führt diese Krise vor Augen, dass Gesundheitssysteme öffentlich, robust und für alle zugänglich sein müssen. Es zeigt sich immer wieder, dass wir starke öffentliche Systeme brauchen, insbesondere starke öffentliche Gesundheits-, Bildungs- und soziale Sicherungssysteme. In vielen Ländern des globalen Südens aber gibt es einen Trend zur Privatisierung und das ist aus unserer Sicht der falsche Weg. Wenn man aus der Krise lernen will, ist eine der Lehren sicherlich, dass man sich auf die Stärkung von öffentlichen Systemen konzentrieren muss und diese widerstandsfähig und nachhaltig gestaltet.


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Aktiv im Thema

www.2030agenda.de | Der Verein Global Policy Forum Europe aus Bonn informiert über die UN-Nachhaltigkeitsziele und kommentiert auch die Corona-Entwicklungen.
www.destatis.de/DE/Themen/Gesellschaft-Umwelt/Nachhaltigkeitsindikatoren/Internationale-Nachhaltigkeit/entstehung-entwicklung.html | Das Statistische Bundesamt informiert darüber, wie es um Deutschlands Umsetzung der Nachhaltigkeitsziele steht.
www.german-doctors.de/de/corona-in-entwicklungslaendern | Die German Doctors entsenden ehrenamtliche Ärzte in Entwicklungsländer und kommentieren die Herausforderungen der Corona-Krise.

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Christopher Dröge

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