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Julia von Lucadou stellte ihren Debütroman Roman „Die Hochhausspringerin“ vor
Foto: Maria Ursprung

Zwischen Biomüttern und Nostalgia Porn

26. Oktober 2018

Teilnahmslose Komfort-Welten: „Die Hochhausspringerin“ von Julia von Lucadou – Literatur 11/18

„Betrachten Sie das Gesicht der Frau. Was für ein Gesicht, denken Sie, so symmetrisch, als habe man nur eine Gesichtshälfte erschaffen und diese dann gespiegelt. (...) Sehen Sie sich diese Augen genau an, Sie werden keinen Makel entdecken, keine Rötung, keine Trübung der Iris oder ungleiche Pullendiameter, stattdessen scharfer Fokus, Konzentration.“ (Aus Julia von Lucadous „Die Hochhausspringerin“, mit freundlicher Genehmingung des Hanser Verlags)

Es herrscht eine ruhige, unheimliche Atmosphäre im Buchsalon Ehrenfeld, obwohl der Andrang groß ist. Als hielte das Publikum den Atem an. Schuld daran ist sie: Julia von Lucadou. Mit erstaunlich positiver, fast schon optimistischer Stimme liest die 36-jährige Autorin und Filmwissenschaftlerin aus ihrem düsteren Erstlingswerk vor. Gerade das ist das Furchteinflößende an „Die Hochhausspringerin“. Die in Heidelberg geborene Mediendramaturgin und Autorin, die in Biel literarisches Schreiben studierte und während ihres Studiums u.a. für das Simulieren von Krankheiten Geld kassierte, kreierte kein Kind, sondern ein Buch. Ihr Baby ist eine schrecklich-schöne Zukunftsdystopie, in der alles und jeder überwacht wird, in der es keine eigene Entfaltungsmöglichkeit gibt. In der „gut drauf“-Sein zur guten Farcon gehört. Ist man dies nicht, schluckt man eine Pille, um weiter zu funktionieren. Ein mal bitteres, mal sehr poetisches und bildreiches Buch zum Thema Überwachung, das mal kafkaesk grotesk anmutet, zwischendurch an Orwell erinnert, dann an Bartleby the Scrivener, der lieber nicht arbeiten möchte und sich dem kapitalistischen System entsagt: „I would prefer not to.“

Riva Karnovsky, Hochhausspringerin aus Hochglanz, sakraler Superstar mit Millionen Sympathisanten, beschließt einfach so, von einem Tag auf den anderen, ihren Job, ihr gesamtes Leben samt Karriere aufzugeben und ihre Wohnung nicht mehr zu verlassen. Eine äußerst mutige Entscheidung und gleichzeitig eine abenteuerliche Idee der Autorin, quasi ein statisches Element zum zentralen Gegenstand zu machen – als antithetische Imperfektion zum Leistungsdruck. In dem Roman, der in einer technologisch modernen Zukunft spielt, deren erste Auswüchse sich bereits im Hier und Jetzt manifestieren, geht es auf drastische Weise um die Themen Überwachung, (Im-)Perfektion, die Auswirkungen digitaler Prozesse auf den Menschen und um soziale Verfügbarkeit – in einer Welt, die zugekleistert ist mit Algorithmen. Überwacht wird Riva dabei von einer Frau, der Wirtschaftspsychologin Hitomi Yoshida, die für PsySolutions arbeitet.

„Ich habe ‚Die Hochhausspringerin‘ aus einem wachsenden Unbehagen heraus geschrieben mit der glatten Oberfläche unserer komfortablen West-Welt“, so Lucadou. „Ich erlebe sie als hochentwickelt, aber teilnahmslos, als frei, aber mit hohem Anpassungszwang, als Ort unzähliger Möglichkeiten, aber überfordernd. Dieses Gefühl habe ich in meinem Roman versucht abzubilden, zu klären, zu übersteigern. Ich habe mich gefragt: Was könnte aus den digitalen Keimen entstehen, die wir gerade aussäen? Der Text war so eine Art Turing-Test für mich, eine Versuchsanordnung, mit der ich versuchte herauszufinden, was den Menschen eigentlich noch von seinen Bots unterscheidet, was uns – oder in diesem Fall meine Figuren – menschlich macht.“

Schwerelos und gleichförmig wird in dem Roman, der für den Schweizer Buchpreis nominiert ist, Kinderkriegen kapitalistisch überwacht outgesourct, werden Frauen sterilisiert, hagelt es Castings, Trademarks, Flysuits™, Activity Tracker, Scores, Credits und Bewertungen. Vielmehr hagelt es nicht, sondern plätschert es uniform und dumpf vor sich hin. Ein bisschen wie eine verzerrte, spiegelverkehrte, kapitalisierte DDR. Umso mutiger erscheint es, dass „Riva lächelnd im antrainiert süßlich forschen Sprachduktus“ auf die Fragen eines VJs antwortet: „Ich finde es beschissen zu gewinnen, ehrlich gesagt. Fuck winning. (...) Fuck-winning-Songs. Fuck-winning-T-Shirts. Fuck-winning-Klingeltöne.“ Mit dem Ergebnis, dass dieses Video ironischerweise schon wieder ein viraler Erfolg wird. So sehr sie es auch versucht, für Riva scheint es gar keine Möglichkeit zu geben aus dieser Marketingwelt auszusteigen.

Die Agentur Family Services™ bietet darüber hinaus in Form von „Nostalgia Porns“ sogar das Vermieten von Kindern und Liebespartnern an, „um das Leben einer Biofamilie zu simulieren“. In „Die Hochhausspringerin“ wohnen jene, die es in diesem System zu Erfolg gebracht haben, statusgemäß höher. Gelingt diese Perfektion jedoch nicht, droht der Absturz und die Vertreibung in die schmutzigen, imperfekten Peripherien. Peripherien, die an Ehrenfeld erinnern, wie die Moderatorin dies geografisch ins Hier und Jetzt einzuordnen versucht. „Es fällt mir schwer, das Bild der nackten Frau im Museum abzuschütteln. Ihr adipöser Körper. Ich muss an meinen ersten Besuch in den Peripherien denken, zum ersten Pflichtcasting. Hinter der Mauer nach dem Zoll erwartete uns eine andere Welt. (...) Erwachsene und Kinder in einer unkontrollierten Meute. Klebrige Menschen, die schlechtes, ungesundes Essen in sich hineinstopften, während sie uns Grimassen schnitten (...).“

Ein faszinierend schrecklicher (Anti)-Wettkampf beginnt: Die Wirtschaftspsychologin Hitomi, verzweifelt bemüht Riva wieder dem Markt verfügbar zu machen, strauchelt selber und fliegt, wird letzten Endes von ihrem Chef gekündigt, verliert Job, Wohnung und den Zugang zu allem und verwandelt sich schließlich kafkaesk grotesk in einen pelzigen Körper, ein wenig an Gregor Samsa erinnernd: „(...) die absurde Fehlerinnerung an meinen eigenen, aus der Form geratenen, widerwärtig pelzigen Körper und das Gefühl der Wärme, das darauf folgt. Ich kann das Aufliegen der Körperoberfläche eines Menschen hinter mir, die Abzeichnung ihrer Struktur in meinem Rücken, aus irgendeinem Grund nicht aus meinem Inneren löschen. Die Scham ist zu groß, als dass ich mit einer Betreuerin über diese Anomalien sprechen könnte. Ich muss hoffen, dass sie im Laufe unserer Mind-Cleansing-Sessions verblassen werden.“ Statt einer richtigen Mutter hat Hitomi grotesker Weise nur einen „Mutter-Bot“. Fast kann die Überwacherin einem leidtun, spricht sie doch aus ihrem Ehrgeiz hinter der Mattscheibe tiefster Einsamkeit. Ihr notorisches Leistungsdenken isoliert sie. Die wenigen Menschen, denen sie begegnet, nimmt sie zum Anlass, sich zu vergleichen und sich selbst zu bewerten. Beziehungen, die auf Liebe aufbauen und unabhängig von Leistung sind, gibt es für sie gar nicht.

So satirisch überzogen und nach Science Fiction klingend „Die Hochhausspringerin“ auch sein mag, so schauderlich real ist der Debütroman gleichzeitig. Hitomi ist mehr als eine rein literarische Figur: In ihrer grausamen Unnahbarkeit berührt sie zutiefst, in ihrem traurigen Streben nach ständigem Output kommt sie einem sogar sehr nahe, erinnert an übereifrige Kollegen, an quälende sinnbefreite Brainstormings in diversen marktwirtschaftlich orientierten Unternehmen oder an Top-Model-Castings à la Heidi Klum. In dem Moment, in dem sie zu stolpern beginnt, blinkt in der Figur, die uns zuvor wie ein lupenreiner Roboter erschien und die laut Lucadou sogar ein Kapitel selbst schrieb, sogar ein klitzekleiner Funken Menschlichkeit auf. Das ist es, was Lucadous Roman so lesenswert macht: Dass es schaurig perfekt an der Oberfläche ist und wie eine sehr überzogene, leicht einzuordnende Persiflage wirkt, jedoch im Grunde – nicht zuletzt aufgrund der poetischen Bildsprache – viel vielschichtiger und mehrdeutiger ist.

Die Frage, die sich aufdrängt, ist: Entfernt der gesellschaftliche Perfektionismus und Optimierungsdrang den Menschen von seiner Ur-Menschlichkeit? Was unterscheidet den Menschen von seinen Bots? Gibt es noch Menschlichkeit in einer perfekten Welt?

„Ich glaube schon, dass wir uns mit unserem wachsenden Selbstoptimierungsdrang von dem ‚wegoptimieren‘, was uns menschlich macht. Wenn wir das Funktionieren zum höchsten Ziel erheben, degradieren wir uns doch eigentlich zu Maschinen. Ich habe keine Angst vor hochmodernen Technologien. Im Gegenteil: Ich finde sie faszinierend, ich nutze sie gerne. Was mir Unbehagen bereitet, sind nicht die Technologien selbst, sondern unser Umgang damit. Wir haben ein System geschaffen, in dem es vollkommen normal ist, dass große Wirtschaftsunternehmen Zugriff auf unsere ganz privaten Daten haben, diese sammeln, analysieren und daraus Profit schlagen. Und in dem der Mensch nur noch funktioniert. Dabei haben wir ja Technologien gerade zu dem Zweck erfunden, uns das bloße Funktionieren abzunehmen und uns mehr Freiheit zu schaffen. Da kommt es mir seltsam vor, dass wir dennoch oft danach streben, uns den Technologien anzugleichen: Unsere Körper sollen perfekt sein, leistungsstark, stählern, gleichförmig. Unser Geist soll permanent hocheinsatzfähig sein, immer abrufbar“, so Julia von Lucadou.

Wer eine Antwort darauf sucht, ob es noch Hoffnung auf einen Funken Menschlichkeit im technologisierten Menschen gibt, wird keine simple Antwort darauf finden. Aber das Lesen des Romans ist durchaus bereichernd in der Suche danach. Wer aus Marktzwängen verhindert war und es nicht zum Casting in die Ehrenfeldschen Peripherien geschafft hat, für den gibt es doch noch einen Trostpreis: eine weitere Lesung am 16. November bei 1LIVE Klubbing.

Julia von Lucadou: Die Hochhausspringerin | Hanser | 288 S. | 19 €

Rebecca Ramlow

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