Mit einem einzigen Buch hat sich Ruth Klüger in die Deutsche Erinnungsliteratur des 20. Jahrhunderts eingeschrieben. „weiter leben. Eine Jugend“ erzählt von ihrer Kindheit, als ihr in Auschwitz neben dem unvorstellbar Bösen das unerklärlich Gute widerfahren ist. Interessant für heutige Leser sind nicht zuletzt ihre Berichte aus der Zeit unmittelbar nach dem Kriege, als sie feststellen musste, dass man in Deutschland mitunter der Überzeugung war, nur Männer, aber weder Frauen noch Kinder seien in den Konzentrationslager gefangen gehalten worden. Eine wache Zeitzeugin ist sie geblieben. Nach der Emigration in die USA, wo sie in Princeton lehrte, sandte sie ihre Beobachtungen einer Mitteleuropäerin aus dem Herzen der USA über den großen Teich.
Jetzt präsentiert die gebürtige Wienerin unter dem Titel „Gegenwind“ einen schmalen Band mit Gedichtinterpretationen, der eine literarische Kostbarkeit darstellt. Zum einen liefert er gezielte Aromatests des Zeitgeistes, zum anderen eignet er sich vorzüglich als Einführung in die Welt der Lyrik für Menschen, die noch eine Hemmschwelle gegenüber dieser Gattung zu überwinden haben. Neben zwölf deutschen Gedichten, stellt sie neun englischsprachige Poeme vor. Sehr konkret geht es zu, wenn Durs Grünbein etwa in „Die Wachtel“ von der lebhaften Großmutter erzählt, die alleine die eisige Erinnerung an den Überfall der Russen in ihr Haus 1945 erstarren lässt. Ein Schweigen, das möglicherweise so etwas wie einen Gründungsmythos Nachkriegsdeutschlands darstellt. Ist es hier die Vergewaltigung, wird in Anne Sextons Gedicht „The Abortion“ schon im Titel das Tabu des Abtreibungsthemas formuliert. Der Text beschreibt Hin- und Rückfahrt einer Frau von New York nach Pennsylvania zu einem Mann, der den Eingriff vornimmt. Dunkel, kraftvoll und mit einer Bitterkeit, die fast schon die Selbstverachtung streift, spricht Anne Sexton über ihr Verzweiflung.
Ruth Klüger fragt sich zu Recht, warum dieses Sujet, das immer ein Thema weiblichen Lebens war, eigentlich so verschwindend selten von der Literatur aufgegriffen wurde. Sie hat aber auch den gesellschaftlichen Kampf der schwarzen Bevölkerung Amerikas während der sechziger Jahre erlebt und übersetzt uns „I, Too“ („Auch Ich“). Die Assoziation zu „Me Too“ darf sich hier durchaus einstellen. Ein Gedicht des farbigen Lyrikers Langston Hughes, das daran erinnert, dass schwarze Bedienstete nur in der Küche essen durften. Es endet in einem lustvoll-luziden Ausblick in die Zukunft mit den Worten: „Außerdem / Wird man merken, wie schön ich bin / Und man wird sich schämen – / Auch ich bin Amerika.“
Von Langston Hughes möchte man ebenso mehr lesen wie von Anne Sexton, nachdem Ruth Klüger von ihnen gesprochen hat, und es könnte so weitergehen mit Emily Dickinson oder mit Jane Hirshfield, die Trumps Bildungspolitik die Stirn bietet. In ihren kurzen, analytischen Interpretationen zeigt Ruth Klüger, wie das Spiel der Worte funktioniert, und öffnet die Tür für eine Gattung, die unmittelbar nach unserem Herzmuskel greift.
Ruth Klüger: Gegenwind | Paul Zsolnay Verlag | 120 S. | 18 €
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