choices: „Politikverdrossenheit“ war lange Zeit ein Schlagwort. Seit Jahren zeigt sich aber, dass das politische Interesse im Grunde sehr hoch ist. Gibt es ein Comeback des politischen Engagements?
Ana-Marija Cvitic: Lucas und ich sind fast der gleiche Jahrgang, er ist 1990 geboren, ich 1991. Wir sind also klassische Millenials. Als wir Abitur gemacht haben, stand Europa gerade vor der Finanzkrise. Ich wurde damals sogar von einem Journalisten gefragt, ob ich glaube, je einen Job zu finden. Wenn man sich die Massenproteste in der Finanzkrise in Spanien, in Italien oder Griechenland ansieht, wenn man den Ursprung von Occupy Wall Street, der Gründung von Neuparteien wie Podemos oder auch der AfD genauer untersucht – sie alle sind eine Reaktion auf die Eurokrise. Sie hat damals Millionen junger Menschen mobilisiert. Es gibt also kein ‘Comeback des politischen Engagements’, es war meiner Meinung nach immer da. Mal sichtbarer, mal unsichtbarer, junge Menschen leben politisches Engagement auch anders. Nicht nur auf der Straße und nicht nur in Parteien. Aber auch. Die Generation Z kennt diese wirtschaftlichen Hiobsbotschaften nicht; ihre Hiobsbotschaften sind Mikroplastik und Klimakatastrophe. Es gibt plötzlich auch in Nordeuropa eine Dringlichkeit. Politiker wie Donald Trump, die dem Pariser Abkommen aktiv entgegenarbeiten, lösen zudem das Gefühl aus, die Politik kümmere sich nicht um das Problem, solange man nicht selbst aktiv wird. Die Schlussfolgerung: Raus auf die Straße und neue Gesetze einfordern.
Lucas Gerrits: Das Wort „Dringlichkeit“ ist entscheidend. Heute haben wir zwei große Dringlichkeiten, für die wir kämpfen müssen: Auf der einen Seite Europa, das durch die Neue Rechte bis Neofaschismus bedroht ist, und auf der anderen Seite die Zukunft auf unserer Erde, die wir mit der menschengemachten Klimakatastrophe und dem Artensterben existenziell gefährden. Der „Point of no return“ wird für die nächsten fünf bis zwölf Jahre erwartet, das treibt die Leute auf die Straße. Vor allem, weil regierende Politik trotz wissenschaftlicher Appelle, Pariser Klimaabkommen und ständiger Beteuerung für den Klimaschutz zu langsam bis gar nicht handelt. Es gibt diesen schönen und passenden Plakatspruch der Fridays-For-Future-Bewegung: „Wir machen unserer Hausaufgaben, wenn ihr eure macht.“
Wie beeinflussen soziale Medien und Digitalisierung die Entwicklung?
LG: Das Grundlegende ist der Wegfall der Gatekeeper. Vereinfacht gesagt: Wenn ich früher eine Meinung an die breite Öffentlichkeit kommunizieren wollte, entschieden Journalistinnen und Journalisten, ob es in der Zeitung veröffentlicht wird oder nicht. Heute gibt es die sozialen Netzwerke und mit Mausklick zugängliche Informationsquellen wie Wikipedia. Die Kosten, zu publizieren, mitzudiskutieren und Informationen zu erhalten, sind extrem gesunken. Rezo hat uns gezeigt, dass man innerhalb weniger Tage Millionen Menschen erreichen kann. Gleichzeitig kommen aber auch Bewegungen hoch, deren demokratiefeindliche Tendenzen man früher stärker eindämmen konnte. Der Umgang mit Hass, Hetze und Desinformation im Netz ist heute einer der größten Herausforderung für unsere demokratische Gesellschaft.
AMC: Viele glauben, dass junge Menschen ihr Leben vertrödeln, wenn sie am Handy hängen. Aber selbst wenn sie sich nur Memes hin- und herschicken, erschaffen sie sich damit eine digitale Infrastruktur, die auch für politische Zwecke genutzt werden kann. Das ermöglicht es, sich ganz einfach über Ländergrenzen hinweg zu mobilisieren. So wie es auch bei Fridays For Future, bei #MeToo oder in USA bei „March for Our Lives“ geschah. Das Internet macht solche neuen, individualisierten Formen des Protests sehr viel einfacher. Außerdem passiert alles gleichzeitig: Wenn in den USA ein Attentat passiert, bekommen wir das genauso schnell mit, wie wenn der Bäcker nebenan gestorben ist. Diese Gleichzeitigkeit der Informationen erzeugt auch eine Gleichzeitigkeit der Solidarität.
Was genau ist daran neu?
LG: Früher war politische Aktion stärker an eine feste politische Struktur gebunden. Eine Partei oder eine Organisation konnte von oben nach unten stärker bestimmen, was wie umgesetzt wird. Heute kann potenziell jede und jeder beim politischen Prozess mitwirken, etwa mit einem YouTube-Video oder einem guten Tweet. Dafür braucht man auch nicht in einer Partei aktiv oder gewählt sein. Die Gelbwesten-Bewegung etwa sind durch ein Facebook-Video entstanden. Die Digitalisierung bringt eine massive Beschleunigung, die mit der traditionell langsameren Demokratie in Konflikt gerät. Der Umgang der CDU mit dem Rezo-Video zeigte ziemlich anschaulich, dass politische Parteien noch lernen müssen, mit neuen politischen Akteuren der Social Mediakratie umzugehen.
AMC: Parteien sind für jüngere Leute leider noch immer riesige, fremdartige Apparate, die nach bürokratischen Prinzipien funktionieren. Aber selbst die FFF-Kids wissen, dass auch die krasseste Grassroots-Bewegung keine Gesetze ändern kann. Man muss den Kontakt zu Parteien suchen. Die Frage ist: Suchen Parteien den Kontakt zu jungen Menschen? Trotz der digitalen Infrastruktur gehen die Leute immer noch auf die Straße – und wenn die Parteien anschlussfähigere Formate umsetzen würden, würden sich auch mehr in Parteien engagieren. Digitalisierung ist ja nie ein Ersatz für etwas, sondern immer eine Ergänzung, um Prozesse zu vereinfachen.
Viele Bürger fordern mehr Beteiligung an Entscheidungen ein. Wie kann das gelingen?
LG: Das Wichtigste bei Partizipation ist der Grundsatz „Aufsuchen statt Abholen“. Junge Menschen sucht man beispielsweise kommunikativ auf WhatsApp und inhaltlich zum Bau eines Jugendhauses auf. Man sollte nicht darauf hoffen, dass sie in Scharen die Gemeindesäle stürmen, weil man dort einen Flyer für ein Projekt zur Gestaltung des Seniorenabends aushängt. Um Repräsentativität zu schaffen, sollten außerdem Menschen mit unterschiedlichen Perspektiven für ein gemeinsames Ziel bewusst zusammenkommen. In Essen etwa wurden 500 Bürgerinnen und Bürger ausgelost, um über Flächen für Wohnungsbau zu diskutieren und zu einem gemeinsamen Ergebnis zu kommen. In Freiburg gibt es den 8er-Rat. Da kommen Schülerinnen und Schüler der 8. Klassen aller Schulformen zusammen, entwickeln gemeinsam Ideen nach ihren Bedürfnissen und setzen Projekte zusammen um. Beide Beispiele zeigen, wie unterschiedlichste Menschen sich mit ihren Interessen einbringen können, sodass nicht immer die gleichen engagierten Personen an politischen Entscheidungen mitwirken. Und das ist wichtig: Studien belegen, dass Beteiligungsferne kein Ergebnis von Einkommen, sondern von negativen Partizipationserfahrungen ist. Je mehr wir Menschen als Expertinnen und Experten in eigener Sache ernsthaft beteiligen, desto mehr Vertrauen in den demokratischen Staat schaffen wir.
Wo liegen die Grenzen?
AMC: Bei verkürzten „Ja-Nein“ Abstimmungen wie dem Brexit.
LG: Soziale Netzwerke wie Facebook lassen uns manchmal denken, es ginge nur um Like oder Nicht-Like, aber es gibt viele Entscheidungen, die nicht mit Ja oder Nein beantwortet werden können und sollten. Darum haben wir zum Glück die repräsentative Demokratie, in der sich Menschen mit Dingen auseinandersetzen und erst einmal viele Perspektiven anhören und die Realisierbarkeit prüfen. Die meisten Partizipationsprojekte scheitern, weil nicht transparent kommuniziert wird, was möglich ist und was nicht. Wenn eine Kommune keine personellen und finanziellen Ressourcen hat, sollte sie das mögliche Ausmaß der Beteiligung realistisch konzeptionieren. Da braucht es auch einen verantwortungsvollen Umgang mit Erwartungshaltung. Ein weiterer Fehler ist, zu denken, man stellt eine Online-Plattform hin und alle würden plötzlich mitmachen. In Friesland hat man versucht, Beteiligung mit Liquid Democracy zu institutionalisieren. Das hat aber dazu geführt, dass nur bereits politische Aktive mitgemacht haben, die sich ohnehin immer beteiligten. Echte Beteiligung ist kein Selbstläufer.
Kürzlich hat sich das EU-Parlament ein Lobby-Register verordnet. Eine Maßnahme für mehr Akzeptanz für die EU?
AMC: Dieses Register gibt es für die EU-Kommission ja schon seit 2016. Dass es nun auch auf das Parlament ausgedehnt wird, ist ein schönes Signal, das den Weg zu mehr Transparenz auf allen EU-Institutionen und vielleicht auf nationalem Level ebnet. In Deutschland versuchen SPD, Die Grünen und Die Linke seit Jahren ein Lobbyregister einzuführen. Wir befürworten es auf jeden Fall. Wenn man sich die Debatte zur Wahl des Kommissionspräsidenten ansieht, sieht man auch ein gewisses Bemühen, transparent zu argumentieren, warum man für oder gegen eine/n KandidatIn ist. Das stärkt die Glaubwürdigkeit der demokratischen Partizipation auf EU-Ebene.
LG: Es geht auch darum, Prozesstransparenz zu schaffen. Es gibt einen eindrucksvollen Film über Jan Philipp Albrecht, „Democracy – im Rausch der Daten“. Er zeigt, mit wie vielen verschiedenen Gruppen und Abgeordneten er für die Datenschutzgrundverordnung verhandeln musste. Das ist auch im Bundestag der Fall: Interessengruppen werden angehört, weil sie von den Gesetzen betroffen sind, die am Ende entstehen. Dass demokratische Politik nicht nur Reden im Parlament, sondern Arbeit in Ausschüssen und unglaublich viel Interessensausgleich bedeutet, darüber sollte man auch stärker informieren und die Arbeit anerkennen.
Politische Mehrheiten haben sich verschoben. Ist das mehr ist als ein vorübergehender Trend?
LG: Langfristige Verschiebung von politischen Mehrheiten setzt voraus, dass alten Mehrheiten nicht mehr zugetraut wird, akute politische Herausforderungen zu lösen. Im Zuge der Globalisierung und Digitalisierung verläuft die gesellschaftliche Konfliktlinie immer stärker zwischen einem liberal-europäischen und einem national-autoritären Lager. In einer Studie der Bertelsmann Stiftung wurde dieser Konflikt als Kluft zwischen „Modernisierungsbefürworter“ und „Modernisierungsskeptiker“ bezeichnet. Man hat es in Österreich bei der Wahl des Bundespräsidenten gesehen, als Norbert Hofer von der FPÖ und Alexander Van der Bellen von den Grünen jeweils nahezu 50 Prozent der Stimmen erhielten. In Deutschland sieht man es am Aufstieg der Grünen, die bei politischen Fragen mit Teilen der Merkel-CDU und der liberalen politischen Linken auf der einen, gegenüber der AfD, sowie rechten Teilen der CDU/CSU auf der anderen Seite stehen. Dass Wahlkämpfe verstärkt anhand dieser Polarisierung inzwischen europaweit entschieden werden und Parteiensysteme und Regierungen verändern, deutet darauf hin, dass dieser Trend die politische Auseinandersetzung unserer Generation bestimmen wird.
Eine neue Dichotomie?
LG: Dichotomie würde bedeuten, dass sich innerhalb unserer Gesellschaft zwei feindliche Lager ohne Überschneidungen gegenüberstehen würden. Dafür sind Gesellschaft und Politik zu komplex. Unser Parteiensystem ändert sich schneller, weil sich Bündnisse zwischen Bürgern und Parteien, die gewisse Werte zu Sachfragen vertreten, sich schneller ändern. Am erfolgreichsten sind die Parteien, die ideologisch Haltung bewahren, aber sich nicht an althergebrachten Dogmen ketten. Dann können sie schnellstmöglich Mehrheiten für Bündnisse zu Sachfragen der aktuellen Agenda organisieren.
AMC: Leider war Macron mit seinem Versuch, die Dichotomie zwischen Rechts und Links aufzulösen, nicht erfolgreich. Herausgekommen ist nicht eine Politik, die weder „Mitte Links, Mitte Rechts“ ist, sondern ganz klar wirtschaftsliberal und konservativ. Hoffentlich gelingen andere politischen Experimente, Sachfragen agil zu beantworten, in Zukunft besser.
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