Ein Geiger steht in der U-Bahn Washingtons, vor ihm der klassisch aufgeklappte Geigenkasten, gedacht für ein paar Münzen der Passanten, die an ihm vorbei hasten. Die Washington Post hatte den Weltstar-Geiger Joshua Bell, der bereits mit unter zwanzig Jahren in New Yorks Carnegie Hall debütierte und heute heimische Gefühle für die ehrwürdige Halle entwickelt, vor einigen Jahren gebeten, mit seiner Stradivari auf höchstem Niveau für die Fahrgäste zu musizieren. Was dabei herauskam? Mehr als tausend Passanten in 43 Minuten, sieben blieben stehen, eine Person erkannte den mehrfachen Grammy- und Oscar-Preisträger. 32,17 Dollar landeten im Kasten. Niemand wurde stutzig ob des Könnens oder der besonderen Klangqualität der Millionen-Geige. Vor zwei Monaten wurde das Experiment, diesmal mit Ankündigung und jungen Mitmusikern wiederholt, da versammelte sich eine riesige Gemeinde und reckte ihre Smartphones und Handys in die Luft.
Unbeabsichtigt hatte seine berühmte Geige einen ebensolchen Publikumstest absolviert. Die Story klingt wie ein erfundener Krimi: 1936 wurde die legendäre Stradivari „Gibson“ dem Virtuosen Bronislav Huberman während eines Konzerts in der Carnegie Hall entwendet. Bis in die Achtziger spielte ein Gelegenheitsmusiker dieses leicht kaschierte 300 Jahre alte Instrument, ebenfalls ohne im Kollegenkreis aufzufallen. Auf dem Sterbebett gestand er seiner Lebenspartnerin den außergewöhnlichen Wert dieses Schatzes. Bell hat sie 2001 gekauft.
Kein Wunder, dass er sich in ein solches Instrument, heute als „Gibson ex Huberman“ geführt, unheilbar verliebt. Charakter sollte nicht nur der Musiker, sondern auch das Instrument haben. Bell, der sich gern auf experimentelles Parkett wagt und neben seinen zahlreichen Konzertveröffentlichungen auch schon mal Jazz und guten Pop mit Freunden produziert und eben als Filmmusiker („Die rote Violine“) aus dem Alltag ausschert, braucht einen edlen anspruchsvollen Partner.
Deshalb ist es noch sensationeller, dass der Geiger seit drei Jahren das mit 500 Einspielungen rekordverdächtige Kammerorchester St Martin in the Fields als Musikdirektor betreut, das jetzt auf seiner Tournee auch Ruhr- und Rheinland streift. Nicht nur mit Händels „Messias“ setzte der Gründer Sir Neville Marriner in den Sechzigern einen unbekannten Standard für Barockmusik auf Neuen Instrumenten. Heute musizieren die Engländer, die nach ihrer ursprünglichen Aufführungskirche in London benannt sind, längst auch klassische und romantische Konzerte: Jetzt stehen neben Beethovens Fünfter Mendelssohn und Bruch (in Essen) bzw. Mozart (in Köln) auf dem Programm. Das ist ein Sahnehäppchen zum Neuen Jahr.
Academy of St Martin in the Fields, Joshua Bell
Di 20.1. 20 Uhr | Kölner Philharmonie | www.koelner-philharmonie.de
Fr 23.1. 20 Uhr | Philharmonie Essen | www.philharmonie-essen.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Wiederentdeckt
Werke von Amerikas erster schwarzer Klassikerin in Essen – Klassik an der Ruhr 04/24
Orchester der Stardirigenten
London Symphony Orchestra in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 04/24
Blickwechsel in der Musikgeschichte
Drei Spezialisten der Alten Musik in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 03/24
Bratschen im Fokus
„Violas Go Wild“ in der Kölner Philharmonie – Musik 02/24
Abenteuerliche Installation
„Die Soldaten“ in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 01/24
„Herrliche Resonantz“
Avi Avital in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 12/23
Tod und Auferstehung
„Auferstehungssinfonie“ in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 09/23
„Von Alt bis Neu wird alles dabei sein“
Mathis Stier über sein Konzert im Rahmen der Reihe Rising Stars in Köln – Interview 08/23
Blut und Tränen
„Lessons in Love and Violence“ in NRW – Klassik an der Ruhr 04/23
Aus grellem Sonnenlicht
Sarah Aristidou in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 03/23
Eine ganz besondere Truppe
Ensemble-Geburtstagsfeier in Köln – Musik 09/22
Klingende Traumlandschaften
Amjad Ali Khan in der Philharmonie – Musik 08/22
Sinfonische Vollender
Gil Shaham in der Kölner Philharmonie – Klassik am Rhein 11/24
Aus Alt mach Alt
Tage Alter Musik in Herne 2024 – Klassik an der Ruhr 11/24
Weiblicher Beethoven
Emilie Mayers 5. Sinfonie im Konzerthaus Dortmund – Klassik an der Ruhr 10/24
Ein Himmel voller Orgeln
Zwei Orgelfestivals in Köln und Düsseldorf – Klassik am Rhein 10/24
Mit virtuoser Blockflötistin
33. Festival Alte Musik Knechtsteden in Dormagen und Köln – Klassik an der Ruhr 09/24
Nach François-Xavier Roth
Der Abgang des Kölner GMDs sorgt für Umbesetzungen – Klassik am Rhein 09/24
Barock und Filmmusik
Open-Air-Konzerte „Viva Italia!“ im Ruhrgebiet – Klassik an der Ruhr 08/24
Exotische Musik
„Sounds of Nature“ und „Diálogos de amor“ beim Niederrhein Musikfestival 2024 – Klassik am Rhein 08/24
Akademische Bürgernähe
Michael Ostrzyga dirigiert „Elias“ in Bergheim und Köln – Klassik am Rhein 07/24
Pop-Hit trifft düstere Rarität
Semesterkonzert an der RUB – Klassik an der Ruhr 07/24
Bruckners „verfluchte“ Neunte
„Von Herzen – Letzte Werke“ in Bochum – Klassik an der Ruhr 06/24
Mit Hochdruck bei der Arbeit
Die Orgelfeierstunden im Kölner Dom – Klassik am Rhein 06/24
Träume aus alten Zeiten
Zamus: Early Music Festival 2024 in Köln – Klassik am Rhein 05/24