choices: Herr Bukow, es ist Wahlkampf. Gestritten wird u.a. über Hartz IV. Hier soll nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts die Menschenwürde als Richtschnur gelten. Ist das zu viel verlangt?
Prof. Dr. Wolf-D. Bukow: Nein, das sollte eigentlich selbstverständlich sein. Nun sagt das Urteil nichts über die Höhe der Leistungen aus, sondern fordert eine seriöse Berechnung der Bedarfe. Bei Kindern und Jugendlichen heißt das etwa, die Notwendigkeit von Bildung zu berücksichtigen. Das ist bisher peinlicherweise nicht geschehen.
Die Bildungspolitik von NRW wie von Deutschland insgesamt hat nicht den besten Ruf. International gesehen ist sie sehr schlecht aufgestellt. Sie soll für Chancengleichheit sorgen, das Recht auf Bildung steht ja immerhin im Grundgesetz. Aber unser Bildungssystem vernachlässigt systematisch insbesondere die unteren sozialen Schichten. Am Schicksal der Einwanderer wird erneut deutlich, dass unser Bildungssystem noch immer an der Drei-Klassengesellschaft des 19. Jahrhunderts orientiert ist.
Sie haben hier einmal einen „schon fast selbstverständlichen alltäglichen Rassismus“ beklagt.
Politiker haben in den letzten Jahrzehnten insbesondere Wahlkämpfe benutzt, um das Thema Zuwanderung zu skandalisieren. Damit haben sie zu neuen Formen des Rassismus, zu einer vergleichsweise abstrakten Fremdenfeindlichkeit beigetragen. Inzwischen besinnt man sich wieder darauf, dass Gesellschaften mehr denn je auf Zu- und Abwanderung basieren. Insbesondere in den Städten haben wir eine massive Fluktuation. In Frankfurt etwa tauscht sich die gesamte Bevölkerung statistisch gesehen innerhalb von 15 Jahren vollständig aus. In Köln geht es mit 20 Jahren etwas langsamer. Die Vielfalt der Menschen nimmt extrem zu, die Verweildauer vor Ort nimmt dagegen ab.
Was heißt eine vergleichsweise abstrakte Fremdenfeindlichkeit?
Der politisch produzierte Rassismus bricht sich an anderen Alltagserfahrungen. Eine Ausgrenzung funktioniert nicht, wenn man aufeinander angewiesen ist und Menschen mit verschiedensten Migrationshintergründen zusammenleben und zusammenarbeiten müssen. Hier siegt der Alltag über die Ideologie.
Was bleibt da für die Politik im Land zu tun?
Wir sind eine multikulturelle Gesellschaft von extremer Vielfalt. In der Soziologie spricht man bei manchen Städten sogar von einer „Supervielfalt“. Man sollte auf allen Ebenen aufhören, naiv von Integration zu sprechen und stattdessen die Vielfalt der Menschen, Kulturen und Religionen ernst nehmen. Und man sollte genauer hinsehen, wo Menschen ungleich behandelt werden und wo die Herstellung der Chancengleichheit notwendig ist. Man sollte versuchen, die marginalisierten Bevölkerungsgruppen in die Gesellschaft zurückzuholen. Die Stichworte der Zukunft sind Chancengleichheit, Beteiligung und Zivilgesellschaft.
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