Partizipation ist das Schlagwort der Stunde. Ob Haushalt und Sparvorschläge, Schulsysteme, Flugplätze oder Bahnhöfe – die Bürger machen mobil oder werden an die Urnen gerufen. Und die Zahl der Bürgerbegehren steigt kontinuierlich. Der „Bürgerbegehrensbericht 2012“ weist zwar seit 1956 fast 6.000 Verfahren auf, davon fallen aber mehr als die Hälfte in die vergangenen zehn Jahre. Partizipation ist längst nicht mehr nur Teil der politischen, sondern auch der ästhetischen Willensbildung. Dass Gruppen wie Rimini Protokoll oder Hofmann&Lindholm sogenannte „Experten des Alltags“, vulgo Laien, auf die Bühne gebracht und damit einer Kritik an der Repräsentation Vorschub geleistet haben, wirkt heute nur wie ein erster Schritt. Diese Kritik frisst sich nämlich allmählich in die Grundstrukturen der Institutionen hinein. Das Thalia Theater in Hamburg hatte sein Publikum in der vergangenen Spielzeit aufgerufen, die Stückauswahl der jetzt laufenden Saison per Internetvoting mitzubestimmen. 5.529 gültige Stimmen gingen ein. Doch als die Bürger angeranzte Stücke von Dürrenmatt und Thornton Wilder, dazu „The Black Rider“ und zwei obskure Werke auswählten – die Lobbyisten hatten ganze Arbeit geleistet –, war die Theaterleitung völlig irritiert.
Das Forum Freies Theater (FFT) zieht jetzt nach und lässt im Mai unter dem Motto „Was ihr wollt“ zehn Zuschauer das Programm gestalten. „Am FFT gehört es zum Konzept“, sagt Leiterin Katrin Tiedemann, „neue Strategien zu entwickeln, wie man das Publikum für das Theater begeistern kann“. Sie spricht von einem „externen Dramaturgieteam“, das den Austausch des Hauses mit außen verbessern soll, Stichwort: Multiplikatoren. Sie sollen aber auch die Alltagsroutine des FFT in Frage stellen. „Wir wollen Störungen in den eigenen Betrieb einbauen“, so Katrin Tiedemann.
Die Freizeit-Kuratoren bekamen eine Einführung in die Betriebsorganisation, durften in die Bewerbungsmappe des FFT sehen und sind dann losgelaufen, um Gastspiele für den Spielplan zu sichten. Eine dieser Laien-Dramaturgen ist die 30jährige Maike Lautenschütz, die PR im Kulturbereich macht. Dreimal im Monat besucht sie in der Regel ein Theater, ist also eine begeisterte Theatergängerin. Sie und ihre neun Mitstreiter, darunter Studenten, eine Tänzerin, ein Lehrer, ein Redakteur im Alter von 20 bis 50 Jahren, hätten aber völlig unterschiedliche Vorlieben, sagt Maike Lautenschütz. Traditionelles Schauspiel sei genauso dabei wie Tanz, Performance, Theater für die japanische Community. „Jeder hat seinen eigenen Fokus.“ Sie selbst ist Anhängerin des niederländischen und belgischen Theaters. Die Spielgestaltung sei schwierig und zeitintensiv gewesen, sagt Maike Lautenschütz. Finanzen, Qualität, Publikumserwartungen – vieles mussten die Kuratoren mitbedenken. Geld bekam keiner der Dramaturgen für die Arbeit, allerdings hat das FFT Fahrten zu Vorstellungen bezahlt. Und so kam schließlich ein Programm zusammen, das neben einer Nippon Performance Night das belgische Künstlerkollektiv Ontroerend Goed, das Wiener Tanzduo Holzinger/Riebeek oder das POGOEnsemble aus Köln vereint.
www.forum-freies-theater.de
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