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Angela Rohr, die 16 Jahre in einem Gulag verbrachte
Bild: Aufbau Verlag

Die Hölle der Lager

06. Januar 2016

Zwei literarische Entdeckungen aus der Welt des Gulag – Literatur 01/16

Rainer Maria Rilke hatte sich in sie verliebt und eine enorme Geldsumme für ihre Genesung aufgetrieben. Lenin hielt ihr auf dem Bahnsteig in Zürich lange die Hand, bevor er 1917 nach Russland aufbrach. Sie lebte mit dem Maler Christian Schad und dem Tausendsassa Walter Serner zusammen und hörte in Berlin bei Sigmund Freud. Bertold Brecht setzte sich noch 1941 im Finnischen Exil für die Veröffentlichung ihrer Texte ein. Eine Frau aus dem Zentrum der Europäischen Avantgarde, die in vielen Lebensläufen berühmter Künstler ihre Spuren hinterlassen hat. Angela Rohr, gebürtige Österreicherin, gehörte zu den literarischen Zeugen des sowjetischen Gulag. 1941 wird sie in Moskau wegen Spionage verurteilt, man weiß, dass sie unschuldig ist. 16 Jahre verbringt sie in der Welt der Lager. Nachdem man in Erfahrung gebracht hatte, dass sie medizinische Kenntnisse besaß, wurde sie als Ärztin eingesetzt.

Unter dem simplen Titel „Lager“ erscheinen jetzt erstmals ihre kompletten Aufzeichnungen, mit deren Niederschrift sie gleich nach ihrer Rehabilitierung 1957 begann. Auch wenn sie damals davon überzeugt war, dass der Text niemals würde erscheinen können, musste sie ihn schreiben. Gleich mit den ersten Zeilen zieht sie einen mit Macht in die Welt des Hungers, der Kälte und der Gewalt hinein. Jörg Baberowski beschreibt in seiner scharfsinnigen Analyse „Räume der Gewalt“ wie jener Raum zur Verfügung gestellt wird, in dem mit Menschen rechtsfrei umgegangen werden kann. Angela Rohr gibt eine Ahnung von der Bosheit, Gleichgültigkeit und der vollkommenen Sinnlosigkeit, in der sich die Häftlinge befinden. Sie hat diese Hölle, die sie gleich auf den ersten Seiten mit Dantes Inferno vergleicht, nicht nur überlebt, sondern vermochte sie auch in einer souverän ausbalancierten Mischung aus Distanz und Anteilnahme zu beschreiben. Eine großartige literarische Leistung, wie sie zwischen Reflexion und detailgenauer Betrachtung zu wechseln versteht.

Jahrzehnte lebte Angela Rohr noch schreibend und als Ärztin praktizierend in einem Zimmer in Moskau, wo sie 1985 im 96. Lebensjahr starb. Eine Diplomatin schmuggelt ihre persönlichen Dokumente aus dem Land. 2004 entdeckt die Herausgeberin Gesine Bey den Empfehlungsbrief von Brecht und begann daraufhin Angela Rohrs Leben und Werk zu rekonstruieren. Eine wunderbare Leistung.

Die vollbrachte auch der Franzose Olivier Rolin mit seinem Roman „Der Meteorologe“. Ihn inspirierte der Fund einer einzigartigen Korrespondenz dazu, sich auf die Spuren des Schicksals von Alexej Wangenheim zu begeben. Als führender Meteorologe der Sowjetunion, studierte er die Wolkenbildung und versorgte die UdSSR mit wichtigen Vorhersagen für die Landwirtschaft und die Schifffahrt. Auch Wangenheim wurde aus nichtigen Gründen verhaftet. Aus dem Arbeitslager schickte er seiner kleinen Tochter Eleonora zahlreiche Briefe, Bilderrätsel und zauberhafte Zeichnungen von Pflanzen und Tieren. Wangenheim wurde ermordet. Zwei wichtige Texte, zum heulen schön und – das darf gesagt werden – sehr geschmackvoll verlegt.

 Angela Rohr: Lager | Aufbau | 440 S. | 22,95 €

 Olivier Rolin: Der Meteorologe | Liebeskind | 193 S. | 19,90 €

Thomas Linden

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