choices: Herr Bauer, wie lässt es sich erklären, dass viele Menschen angesichts der Klimakrise regelrecht passiv wirken?
Joachim Bauer: Von etwas, was ich gar nicht kenne, kann ich mich auch nicht angesprochen fühlen. Wer im Alltag die Augen offen hat, kann Folgendes beobachten: Immer mehr Menschen verlagern ihren gefühlten Lebensmittelpunkt von der analogen Realität in ihre Social-Media-Accounts oder die virtuellen Räume des Internets, vor allem in die Welt der Videospiele. Millionen Menschen verbringen zwischen drei und acht Stunden in Social Media oder gamen. Das betrifft nicht nur, aber vor allem diejenigen, die wir als wokes Potential bräuchten: die jüngeren Menschen. Der Abmarsch ins Internet bedeutet einen „Realitätsverlust“, so der Titel meines dieses Jahr erschienen Buches. Zur Realität, die uns verloren geht, gehören nicht nur analoge Begegnungen mit anderen Menschen, sondern vor allem auch das analoge In-der-Natur-Sein. Das heißt, diese digitalen Angebote ziehen uns weg von der Natur, da sie die Zeit binden, die wir noch in der Natur verbringen könnten. Wer viele Stunden am Tag seinen Social-Media-Account pflegt oder Videospiele spielt, hat keine Möglichkeit, die Natur wahrzunehmen. Diese Entfremdung leistet natürlich auch einen Beitrag dazu, dass es uns gar nicht mehr wichtig ist.
„Verhältnis zu Natur“
Wir laufen also mit geschlossenen Augen in ein Dilemma, obwohl über Social Media umfangreich über die Klimakrise informiert wird?
Die Umweltkrise ist auf Social Media eigentlich kein großes Thema, sondern hier sind andere Themen viel wichtiger, nämlich, wie wir uns selbst darstellen. Damit ein tatsächliches Momentum in der Breite entsteht, dass wir bereit sind, Dinge zu machen, die den Klimawandel begrenzen, braucht es mehr als nur eine kognitive, informative Auseinandersetzung. Vielmehr braucht es dazu eine empathische Beziehung zur Natur. Es ist anzunehmen, dass es diese mal gegeben hat, als wir noch weniger technologisch gelebt haben. In der Zeit vor der Sesshaftwerdung war der Mensch ein in der Natur in Gruppen umherziehendes Wesen. In diesem Zeitraum, der jetzt länger als 12.000 Jahre zurückreicht, war es für den Menschen beinahe eine Lebensnotwendigkeit, einen engen Bezug zur Natur zu pflegen und praktisch permanent in einem Verhältnis zu ihr zu stehen.
„Unser Globus sei nicht mehr zu retten“
Wie stark ist unser Bezug zur Natur?
Die meisten Menschen haben die Beziehung zur Natur verloren. Das ist von der Digitalindustrie durchaus gewollt: Wir sollen möglichst viel Zeit mit den digitalen Angeboten verbringen. Die Eliten in den Tech-Konzernen verfolgen ganz offen ein Konzept, dem zufolge die natürliche analoge Welt nicht mehr zu retten ist. In den USA ist diese Denkweise bereits vorherrschend, bei uns breitet sie sich vor allem in digital-affinen Kreisen aus. Einer der Wortführer dieser digitalen Ideologie ist der weltweit einflussreichste Philosoph, David Chalmers. In seinem kürzlich auf deutsch erschienen Buch „Reality+“, das – wie in den USA – auch bei uns ein von vielen bejubelter Erfolgstitel ist, schreibt Chalmers ganz offen, dass unser Globus nicht mehr zu retten sei. Die Zukunft liege darin, dass wir unser Dasein in virtuelle Welten verlagern. Konkret: Dass wir unsere Körper in Lagerhäuser einlagern und mit einem Headset über den Kopf die Zeit in künstlichen virtuellen Welten verbringen. Er sagt ganz offen und explizit: Der Globus sei nicht zu retten, die Klimakatastrophe wird kommen und Atomkriege kämen dazu. Wir sollten uns überhaupt keine Sorgen mehr machen oder uns bemühen, hier etwas aufzuhalten. Sondern die Lösung sei: Der Abmarsch in die virtuellen Welten.
„Mit Kunstwelten Kasse machen“
Wie sehr haben wir unsere Gefühle ökonomisiert?
Ökonomisierung ist das Stichwort. Das von Tech-Konzernen und Vertretern des sogenannten Transhumanismus verfolgte Konzept ist, mit dem Wechsel von analogerRealität in die Kunstwelten des Internets Kasse zu machen. Was uns dabei verloren geht, sind nicht nur die Gefühle, sondern auch unser Körper. In virtuellen Welten gibt es weder Dinge noch Körper, die wir sinnlich anfassen oder fühlen können. Alles wird simuliert. Wenn Computer Regen simulieren, wird es weder im Computer noch bei mir zuhause nass. Bei Sonnenschein gibt es kein Wärmegefühl auf dem sonnenbeschienenen Körper. Wenn Wald simuliert wird, spüre ich keinen weichen Waldboden mehr, es duftet nicht und Pilze lassen sich auch keine pflücken. Die Digitalisierung bedeutet also nicht nur eine Ökonomisierung von allem und jedem, sondern auch eine Ent-Dinglichung und Ent-Körperlichung der Welt.
„Vorstellung von Eigentum absurd“
Hamstern oder Teilen – was entspräche dem Steinzeitmenschen mehr?
Es gibt noch ein paar Jäger- und Sammlerkulturen auf der Welt – ganz wenige – und die werden auch erforscht. Sie haben fast alle flache Hierarchien. Das heißt, keiner hungert, wenn nicht alle hungern. In der Steinzeit gab es auch keinen Grundbesitz, Archäologen nennen dasOpen-Access-Territories.Das Land war frei zugänglich in diesen Jäger- und Sammlerkulturen.
Wenn man nichts mehr zum Leben gefunden hat, ist man weitergezogen?
Genau. Und die Vorstellung von Eigentum an Land oder dass andere Menschen mir gehören, ist aus der Sicht eines Jäger- und Sammlermenschen absurd – sie macht für ihn einfach keinen Sinn.
„Ressourcen brauchen vernünftige Ökonomie“
Welche Herausforderungen brachte die Sesshaftwerdung mit sich?
Die Sesshaftwerdung war natürlich schon ein gewaltiger Schritt. Damit begann nämlich auch die Erfindung des Grundeigentums, die Erfindung des Besitzes an anderen Menschen, gleichermaßen auch die Paarbeziehung dergestalt „Meine Frau gehört mir“ – der Beginn des unseligenPatriarchats –und die Ökonomisierung aller Lebensbereiche. Knappe Ressourcen brauchen eine vernünftige Ökonomie. Das muss man sich klarmachen. Seitdem wir sesshaft geworden sind als Menschheit, leben wir in einem Spannungsverhältnis: Zwischen den ursprünglichen Konzepten der allzeitigen sozialen Verbundenheit und dem Konzept der flachen Hierarchien einerseits. Auf der anderen Seite brauchen wir Organisationen oder Ordnungen, die dafür sorgen, dass wir vernünftig mit den knappen Ressourcen umgehen, die wir unter den Bedingungen der Sesshaftigkeit haben – an Wohnungen, Lebensmitteln, an Dingen, die wir selbstherstellen müssen. Dieses Spannungsverhältnis, in dem wir leben, muss immer wieder neu austariert werden. Dabei müssen wir schauen, dass dieses ursprüngliche Bedürfnis des Menschen – nach sozialer Verbundenheit und Gleichheit – bis zu einem gewissen Maß erhalten bleibt. Sodass wir die Hierarchien nicht überspannenund erreichbar füreinander bleiben.
Sie sagen, unser Empathie-Potenzial sei beschädigt. Was meinen Sie damit?
Ich meinte vor allem die verlorengegangene Anwesenheit von Natur und das ganz konkrete Zurückgehen der Zeit, die wir in der Natur verbringen. Wenn ich etwas gar nicht um mich herum habe, dann kann ich auch keine Empathie dazu entwickeln.
„Mehr Antidepressiva in Stadtvierteln mit wenig Grün verkauft“
Hat diese verlorengegangene Empathie auch Einfluss auf unsere Gesundheit?
Die Abwesenheit von Natur wirkt sich auch negativ auf die Gesundheit aus. Das ließ sich in der Pandemie zum Beispiel zeigen. In vielen Ländern der Welt gab es Ausgehverbote, „stay at home”war das Schlagwort.
Eine große Studie, die in Leipzig durchgeführt wurde, hat ermittelt: Die Rate an Depressionen und Angststörungen war damals bei denen am geringsten, die von zu Hause aus den Blick in die Natur hatten – also auf Grün, Bäume, auf Wiesen oder Parks. Man hat darin Stadtviertel mit und ohne Begrünung miteinander verglichen mit Bezug auf den Antidepressiva-Verkauf in den Apotheken der jeweiligen Stadtviertel. Und es korrelierte: In Stadtvierteln, in denen wenig Grün war, wurden mehr Antidepressiva verkauft. In einer amerikanischen Studie hat man getestet, wie aktiv sich Grübelzentren im Gehirn in Abhängigkeit zur Natur verhalten. Diese Zentren sitzen im Stirnhirn und sind aktiv daran beteiligt, wenn Menschen negativ grübeln. Den Probandinnen hat man angeboten, zwei Stunden durch einen Park zu gehen oder entlang einer belebten Autostraße.Das Maß der motorischen Bewegung war in beiden Fällen gleich, nur der Ort war unterschiedlich. Es kam heraus, dass diejenigen, die durch den Park gelaufen waren, eine hochsignifikante geringere Aktivierung dieser Grübelzentren zeigten. Das heißt, die Verbindung mit der Natur ist extrem wichtig für unsere psychische und damit auch körperliche Gesundheit.
„Womit uns keine Empathie verbindet, das wollen wir auch nicht retten“
Wieso ist Empathie so wichtig, wenn wir globale Krisen bewältigen wollen?
Womit uns als Menschen keine Empathie – also keine Anteilnahme und kein Mitgefühl – verbindet, das wollen und können wir auch nicht retten. Es reicht offenbar nicht aus, rational zu begreifen, dass sich da was Gefährliches entwickelt. Es ist wie mit Eltern, die ihr Kind nicht lieben. Sie werden nichts dafür tun, dass es im Krankheitsfall die beste Versorgung bekommt.
„Wenn dieser große Trend weitergeht, kriegen wir keine Wirksamkeit in die Umweltbewegung“
Brauchen wir ein anderes Bewusstsein für den Umgang mit virtuellen Welten?
Wir müssen uns klarmachen, was derzeit geschieht: Die digitalen Technologien sind dabei, uns das gesamte Leben und damit auch die Natur aus der Hand zu nehmen. Sie sind zwischen fast jeden zwischenmenschlichen Kontakt geschaltet. Simulierte Welten sollen uns die Natur ersetzen, die Arbeit soll von der analogen Welt ins Metaversum verlagert werden. Die Tech-Eliten verkünden sogar, dass sich der Geist eines konkreten Menschen auf einen Computer hochladen lasse, ein als „Mind-Uploading“ bezeichnetes Verfahren, über das wir so unsterblich werden könnten. Alles nachzulesen bei dem von den deutschen Medien derzeit so hoch gelobten David Chalmers. Dieser ganze Tripp ist ein hoch gefährliches Unternehmen und macht uns von den Tech-Riesen abhängig, während gleichzeitig die natürliche Welt vor die Hunde geht. Wir können uns abstrampeln, noch und noch. Wenn dieser große Trend weitergeht – dass wir in die digitalen, virtuellen Räume gehen – dann kriegen wir keine Wirksamkeit in die Umweltbewegung. Dann ist dort der Zug abgefahren.
Wie können wir uns zurückbesinnen?
Alle, die mal eine Wanderung gemacht haben oder für eine gewisse Zeit in der Natur waren, sind wie beseelt und beschwingt. Es erfüllt sie, die Verbundenheit mit der Natur zu spüren, wenn sie sich in ihr bewegen. Das kann ich jedem nur empfehlen.
GEBEN UND NEHMEN - Aktiv im Thema
schoepflin-stiftung.de | Die Stiftung fördert ziviles Engagement in Bildung, Wirtschaft, Medien und Migration „als Ergänzung und Gegengewicht zu öffentlichen und privatwirtschaftlichen Akteuren“.
solidarische-moderne.de/de/article/364.alternativen-fuer-eine-gerechte-und-solidarische-europaeische-wirtschafts-und-finanzpolitik.html | Positionspapier des Institut Solidarische Moderne für eine solidarische Wirtschafts- und Finanzpolitik.
imzuwi.org | Das Impulszentrum Zukunftsfähiges Wirtschaften betreibt „Wirtschaftsmöglichkeits-Forschung mit kritischem Blick auf herrschende Ideen und Interessen“.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
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Weihnachtswunder
Intro – Geben und nehmen
Es ist nicht die Natur, Dummkopf!
Teil 1: Leitartikel – Es ist pure Ideologie, unsere Wirtschafts- und Sozialordnung als etwas Natürliches auszugeben
„Gier ist eine Systemeigenschaft im Finanzsektor“
Teil 1: Interview – Soziologe Sighard Neckel über Maßlosigkeit im Kapitalismus
Menschenrechte vor Dividenden
Teil 1: Lokale Initiativen – Der Dachverband der Kritischen Aktionärinnen und Aktionäre in Köln
Wo komm ich her, wo will ich hin?
Teil 2: Leitartikel – Der Mensch zwischen Prägung und Selbstreifung
Etwas zurückgeben
Teil 2: Lokale Initiativen – Wuppertals Zentrum für gute Taten e.V.
Man gönnt anderen ja sonst nichts
Teil 3: Leitartikel – Zur Weihnachtszeit treten die Widersprüche unseres Wohlstands offen zutage
„Dieses falsche Gesellschaftsbild korrigieren“
Teil 3: Interview – Philosoph Jan Skudlarek über Freiheit und Gemeinwohl
Mit Oma auf die Straße
Teil 3: Lokale Initiativen – Die Bochumer Ortsgruppe der Omas gegen Rechts
Konzern in Arbeiterhand
Die Industriegenossenschaft Mondragón – Europa-Vorbild: Spanien
Neidischheit und Geiz und Reichheit
Die Reichen sind geizig und die Armen neidisch. Klare Sache? – Glosse
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 1: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 2: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
„Die Bürger vor globalen Bedrohungen schützen“
Teil 1: Interview – Politikwissenschaftler Oliver Treib über Aufgaben und Zukunft der Europäischen Union
„Mosaik der Perspektiven“
Teil 2: Interview – Miriam Bruns, Leiterin des Goethe-Instituts Budapest, über europäische Kultur
„Der Verkauf des Kaffees nach Europa ist gestoppt“
Teil 3: Interview – Sebastian Brandis, Sprecher der Stiftung Menschen für Menschen, über das EU-Lieferkettengesetz
„Tiefseebergbau ohne Regularien wäre ganz schlimm“
Teil 1: Interview – Meeresforscher Pedro Martinez Arbizu über ökologische Risiken des Tiefseebergbaus
„Wir müssen mit Fakten arbeiten“
Teil 2: Interview – Meeresbiologin Julia Schnetzer über Klimawandel und Wissensvermittlung
„Entweder flüchten oder sich anpassen“
Teil 3: Interview – Klimaphysiker Thomas Frölicher über ozeanisches Leben im Klimawandel
„Es liegt nicht am Gesetz, Kriminalität zu verhindern“
Teil 1: Interview – Kriminologe Dirk Baier über Gewaltkriminalität und Statistik
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Teil 2: Interview – Publizist Tanjev Schultz über ethische Aspekte der Berichterstattung über Kriminalfälle
„Eltern haben das Gefühl, sie müssten Buddhas werden“
Teil 3: Interview – Familienberaterin Nina Trepp über das Vermeiden von psychischer Gewalt in der Erziehung
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Teil 1: Interview – Tierethikerin Friederike Schmitz über vegane Ernährung
„Naturschutz wirkt“
Teil 2: Interview – Biologin Katrin Böhning-Gaese über Biodiversität, Wildtiere und Naturschutz