Wirr, weltfremd und darauf versessen, sämtliche Alltagsprobleme derartig zu zerdenken, dass sie die einfachsten Lösungen übersehen – das Bild des Philosophen ist in Sebastian 23s erstem Roman „Theorie und Taxis – Auswege aus der Philosophie“ ein eindeutiges. Die Praxis ist nicht ihr Fall. Vielleicht eher Taxis.
Gott und grüne Rüssel
Der Protagonist des Romans, Paul Borchert, ist ein ehemaliger Philosophiestudent, der nun, in seinem Taxi vor dem Bochumer Hauptbahnhof sitzend und auf Kundschaft wartend, die Zeit findet, seine Versionen von möglichen Antworten auf philosophischen Fragen darzustellen. In 30 Kapiteln plus Epilog sinniert der Ich-Erzähler breit gefächert über die wichtigsten Fragen der Philosophie: „Was ist Wahrheit?“, „Was ist Liebe?“, „Was ist Glück?“ oder „Was ist Freiheit?“. Hierbei wird den gedankenschweren philosophischen Theorien keinesfalls mit dem gebührenden Ernst begegnet, sondern deren Konsequenzen kompromisslos weiterdenkend auf Alltägliches oder Absurdes übertragen.
Die philosophische Frage, ob Gott einen Stein erschaffen kann, der so schwer ist, dass er ihn selbst nicht mehr heben kann, die dessen Allmächtigkeit widerlegen soll, wird eingebettet in einen Dialog zwischen Gott und einem toten Philosophen. Nachdem der Philosoph sich unmittelbar nach dem Eintritt in den Himmel vor Gott als Atheist offenbart, lässt Gott ihm einen grünen Rüssel auf der Stirn wachsen. Die Frage, ob Gott diesen Stein nun wirklich heben kann, wird geschickt umgangen, indem Gott dem Philosophen seine eigenen Grenzen aufzeigt.
Der Weg zur Beantwortung der ursprünglichen philosophischen Frage ist nicht selten unkonventionell, überdreht und rhetorisch zugespitzt. In den verschiedenen Kapiteln begegnen dem Leser eine Vielzahl von außergewöhnlichen Fahrgästen, ein trächtiges Einhorn und die Schildkröte Zenon. Doch auch bei besonders abwegigen Ereignissen verliert Sebastian 23 nie den Blick für die ursprüngliche Frage. Am Ende eines Kapitels ist die Betrachtungsweise der philosophischen Frage zumeist trotz – oder gerade wegen – ihrer Absurdität plausibel und überzeugend.
Am Ende des Romans folgt ein Glossar der schwierigen Wörter, in dem philosophisch hochtrabende Begriffe wie „Phänomenologie“, „Quietiv“ oder „Panlogismus“ allen Nicht-Philosophen humorvoll verständlich gemacht werden.
Mehr Eingang als Ausweg?
Für den Leser ist der Untertitel des Romans jedoch nur bedingt zutreffend. Bei den verschiedenen philosophischen Gedankenspielen, die Sebastian 23 geschickt in alltägliche Probleme übersetzt, entsteht eher ein Verlangen, sich detaillierter mit diesen philosophischen Gedanken auseinanderzusetzen, als der Wunsch, den schnellmöglichen Ausweg vor ihnen zu finden.
Besonders die gesellschaftskritischen Beispiele und Nebenbemerkungen, die in den philosophischen Kontext eingeflochten werden, oder persönlichen Ansichten von Paul Borchert zu Liebe, Freundschaft oder Kultur machen aus „Theorie und Taxis“ wesentlich mehr als nur ein Best-of von Philosophie-Anekdoten. Gerade durch den kreativen humorvollen Stil und die bissigen Vergleiche zum Zeitgeschehen hebt sich der Roman von vergleichbaren populärwissenschaftlichen Werken ab.
Mit „Theorie und Taxis“ schafft es Sebastian 23, nicht nur die Gedankengänge von Philosophen aufzuzeigen und in moderner Sprache nachvollziehbarer zu machen, sondern auch allgemein für Fragen der Philosophie zu begeistern. Ist der Roman damit nicht vielmehr ein Eingang zur Philosophie als ein Ausweg? Diese Frage beantwortet Paul Borchert nicht.
Sebastian 23: „Theorie und Taxis – Auswege aus der Philosophie“ (inklusive E-Book)
Carlsen, 160 Seiten, 9,99€
www.sebastian23.com | Sebastian 23 - Theorie und Taxis (Kapitel 2)
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