choices: Frau Trepp, wie schlimm ist es, Kinder anzuschreien oder ihnen Nähe zu verweigern?
Nina Trepp: Sehr schlimm. Und ich bin ganz froh, dass die neuesten Studien das auch beweisen. Gerade in der Schweiz gab es da auch eine große Umfrage mit über 1.500 Eltern. Und dabei ist auch dazu herausgekommen, dass das, was ich in der Praxis täglich erlebe, wirklich schlimm ist.
Kommt diese psychische Gewalt der körperlichen nahe?
Ja, es ist sogar sehr, sehr ähnlich. Das ließ sich in der Hirnforschung belegen: Es sprühen wirklich fast die gleichen Hirnareale los, als wenn körperliche Gewalt stattfindet. Was der grosse Unterschied ist: Es ist nicht unmittelbar lebensbedrohlich. Körperliche Gewalt hingegen kann sofort lebensbedrohlich werden. Mit psychischer Gewalt ist man so schnell nicht tot. Das ist ein großer Unterschied. Aber vom Schmerz ausgehend und von den Schäden, die es hinterlässt, kann man es eins zu eins gleichsetzen.
Beides sollte also tabu sein?
Auf jeden Fall. Ja.
„Man kann nicht schlagen, rütteln, reißen“
Im Alltag mit Kindern wird es immer mal stressig. Wie können Eltern die Nerven behalten?
Es braucht natürlich im Vorfeld ganz viel Arbeit an sich selbst, indem die Eltern bestenfalls ihre eigene Kindheit aufgearbeitet und verarbeitet haben. Wenn man mit viel Achtsamkeit unterwegs ist, sich bewusst ist, heute habe ich einen schlechten Tag, heute ist gerade die Trennung von meinem Partner ein Jahr her, und man weiß, wie es einem selbst geht, dann kann man schon ganz viel reduzieren. Eine ganz einfache Lösung ist: Man dreht sich vom Kind weg und verschließt die Hände hinter dem Rücken – also die Finger greifen ineinander. Dann kann man nämlich nicht schlagen, man kann nicht rütteln, man kann nicht reißen. Das alles kann man nicht machen. Nachdem man sich umgedreht hat, lässt man einfach mal die Wut raus, die gerade in einem brodelt. Das ist sehr hilfreich, da es erstens körperliche Gewalt am Kind verhindert und zweitens die verbale Aggression rauslässt, und zwar nicht direkt in Richtung Kind. Eltern haben immer das Gefühl, sie müssten gleich Buddhas werden und immer relaxed und freundlich und immer gut drauf sein. Das entspricht einfach nicht der Realität. Sich wegzudrehen kann man wirklich lernen und üben. Wichtig ist aber, dass man dann nicht sagst: „Du, Kind, bist scheiße“, „Du bist böse“, „Du machst alles falsch“, „Du kannst nichts“, „Du taugst nichts“. Sondern: „Verdammte Scheiße, ich hab’ die Schnauze voll“, „Ich kann nicht schon wieder alles aufputzen“, „Immer fällt irgendwie was runter“, „Ich hab’ keine Lust mehr, alles kotzt mich an“, „Alles ist scheiße“. Dann hat man zwar immer noch geflucht, muss sich dabei aber nicht beherrschen, da man es inhaltlich nicht an das Kind richtet. Psychisch macht es für das Kind einen Riesenunterschied, wenn Eltern auf diese Weise Eigenverantwortung übernehmen. Also merken, dass sie gerade müde oder gestresst sind oder zu wenig Unterstützung aus der Gesellschaft haben, statt ihre Verfassung auf das Kind zu projizieren, in dem Sinne „Das Kind provoziert oder reizt mich“. Wenn Eltern das erkennen und dem Kind weitervermitteln, also in der Lage sind zu sagen, „Hey du, ich bin eben total ausgerastet. Das hat aber nichts mit dir zu tun. Ich brauch’ jetzt ein bisschen Zeit für mich“, dann ist die Situation für das Kind zwar unangenehm, es erschrickt vielleicht währenddessen oder wird traurig, doch es geht nicht kaputt dabei. Es verletzt nicht den Selbstwert oder die Integrität des Kindes, denn es weiß, dass Mama oder Papa oder eine andere enge Bezugsperson gerade ein Problem hat. Das Kind erfährt „Mit mir hat das gar nichts zu tun. Ich bin okay, wie ich bin“.
„Das Kind spielt, entdeckt und erforscht“
Es geht darum, das Verhalten des Kindes nicht abzuwerten, sondern ihm zu erklären, warum die Situation vielleicht auch gefährlich sein? So kann es aus dem Konflikt auch etwas lernen?
Ja, genau. Gefahr ist noch ein etwas anderes Thema. Wenn man ein Kind zurückhalten muss, damit es nicht seinem Ball auf die Straße hinterherrennt, auf der gleichzeitig ein Lkw angefahren kommt, ist in einem gewissen Sinne Gewalt erlaubt, oder? Nämlich: Das Kind zurückreißen, egal wie. Schreien, wenn man noch in Hörweite ist, um es zu stoppen. Das ist eine Ausnahmesituation. Da sind diese Maßnahmen okay, weil es um Leben und Tod geht. Aber wenn es zu Hause ununterbrochen heißt: „Spiel‘ nicht damit“, „Mach‘ das nicht“, „Wie blöd du bist, du schnallst es eigentlich nie“, „Ich habe das schon hundertmal gesagt“, ist es was ganz anderes. Man sollte die eigenen vier Wände so einrichten, dass es passt. Wir wohnen nicht im Wald, draußen in der Natur, wo ein Kind sich artgerecht austoben und frei bewegen kann. Sich darüber bewusst zu sein und in die Eigenverantwortung zu kommen, ist immens wichtig. Eine klare Aussage machen zu können, was man will und was nicht, z.B. „Die teure Vase fasst du bitte nicht an. Ich möchte sie hier gerne stehen haben, weil sie mir sehr wichtig ist“. Oder noch besser: „Ich will, dass du hier drüben spielst“ oder „Ich will, dass du mit dem Ball im Korridor spielst“. Sich aber immer dabei bewusst machen, dass das Kind gerade nur am Spielen, Entdecken, am Erforschen ist, wie es eigentlich wichtig wäre – je nach Alter.
„Ganz viele feine Informationen“
Wann kann ein Kind Schaden nehmen? Also, wann kann durch die Eltern eine Integritätsverletzung entstehen?
Dass es eine Integritätsverletzung gibt im Sinne von: es schadet dem Wachsen seines Selbstwertes, dafür reicht schon sehr, sehr wenig im Grunde genommen. In diesem Zusammenhang muss man sehr aufpassen, gerade bei ganz kleinen Kindern. Die ersten drei Jahre sind immens wichtig. Die weiteren drei Jahre ebenfalls noch. Etwa ab sechs Jahren ist es nicht mehr so schlimm, vorausgesetzt die ersten Jahre davor sind gut verlaufen. Wenn dann jemand kommt und sagt „Man, wie blöd bist du eigentlich?“, dann tut das zwar weh, es ist ein Schlag, aber es ist nicht ganz so verletzend. Wenn es das Kind hingegen immer wieder hört, vor allem in diesen ersten Jahren, „Du taugst nicht, du kannst nichts, nie begreifst du es, nie geht irgendwie was bei dir, immer muss ich dir alles wieder sagen“, dann reicht es schon dazu aus, dass der Selbstwert nicht wachsen kann. Dazu braucht es eigentlich viel weniger als wir denken. Man muss sein Kind nicht zusammenscheißen und es als Arschloch beschimpfen. Sondern es reicht schon, wenn ein Kind immer wieder hört, „Das stimmt überhaupt nicht, wie du es wahrnimmst. Es ist doch gar nichts.“ Oder, dass Vergleiche zur kleinen Schwester gezogen werden, wie „Sie kann schon stillsitzen, du schaffst das einfach nicht“. Das sind ganz viele feine Informationen, die schon einen ganz großen Schaden anrichten können, wenn das von ganz früh immer und immer wieder kommt, und es darüber hinaus keine engen Bezugspersonen gibt, die solche Aussagen wieder relativieren können, indem sie das Kind sehen, hören, ernst nehmen und bedingungslos lieben. Wenn es das nämlich bekommt, wenn es das braucht, dann kann auch mal jemand ausflippen oder unfair agieren.
Denn dann kann man auf die andere Person ausweichen?
Genau. Also es braucht eine enge Bezugsperson, die das Kind und seine Bedürfnisse sieht und darauf eingeht, damit es möglichst gesund erwachsen werden kann.
„Versuchen, sich zu beruhigen“
Was kann man tun, wenn man doch etwas Herabwürdigendes oder Beleidigendes gesagt hat?
Man kann dafür Verantwortung übernehmen. Als Erstes, sobald man wahrgenommen hat, dass man gerade etwas Falsches gesagt hat, kann man zu sich selbst sagen, „Mir geht es gerade gar nicht gut“, sich in den Arm nehmen und sich Trost spenden, „ich bin eine gute Mutter. Ich bin gut genug“. Dann versuchen, sich zu beruhigen. Wie mache ich das? Das kann man im Vorfeld üben. Jeder Mensch ist anders. Der eine muss schreien, mit den Füßen aufstampfen oder auf etwas draufhauen oder eine Runde um den Block gehen. Man kann auch von zehn an rückwärts zählen, auch in einer Fremdsprache, oder versuchen, über die Atmung ruhiger zu werden. Dann, wenn man sich selbst wieder so weit beruhigt hat – es kann auch sein, dass es erst am nächsten Tag soweit ist, wichtig ist nur, dass es passiert – zurück zum Kind, auf Augenhöhe in Kontakt kommen und schauen, ob das Kind überhaupt bereit ist. Und dann sagen „Hey, du, vorhin bin ich ausgeflippt. Ich hab’ dir was Gemeines gesagt. Das war nicht okay von mir. Mir ging es gerade nicht gut, jedoch mit dir hat das nichts zu tun. Jetzt bin ich wieder da, jetzt sehe ich dich wieder. Was brauchst du jetzt?“
„Es möchte herausfinden, wer ich gerade bin“
In einem Interview haben Sie mal gesagt, Kinder suchen keine Grenzen, sie suchen Kontakt. Was haben Sie damit gemeint?
Genau, dieser Satz stammt von Jesper Juul [dänischer Familientherapeut, 1948-2019; d. Red.]. Ich habe ihn noch ein bisschen umgeändert und gesagt, „Kinder testen keine Grenzen, sie suchen Kontakt“. Man kann davon ausgehen, dass Kinder bis zehn immer mit uns Erwachsenen kooperieren möchten. Wir sind kooperative Wesen, wir möchten immer kooperieren. Wenn ich davon ausgehe: Mein Kind ist kein Tyrann. Mein Kind will nichts gegen mich machen, sondern es macht gerade etwas für sich. Dann ist es nicht dabei, Grenzen zu testen, also negativ formuliert, es will mich reizen, es will mich stören, sondern es möchte herausfinden, wer ich gerade bin. Wer ist diese wichtige Person? Was strahlt sie aus, wenn sie morgens glücklich nach einem Paarabend zum Zimmer rauskommt? Wie verhält sie sich, wenn gerade die Großmutter gestorben ist? Wer ist sie, wenn sie gerade Streit hatte mit dem besten Kollegen auf der Arbeit? Wer ist sie? Es ist der Job jedes Kindes, herauszufinden, wer genau seine Bezugspersonen sind. Und dafür muss es immer wieder in den Garten der Bezugspersonen reintrampeln. Es muss also immer wieder über die sogenannten Grenzen gehen, um diese Grenzen kennenzulernen. Eltern müssen ganz klar formulieren können „Hey, stopp, halt. Hier ist meine Grenze. Wenn du da rüberkommst, okay, das ist dein Job. Das ist ganz in Ordnung. Dann zeige ich sie dir wieder auf, hier ist sie, meine Grenze.“
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