choices: Herr Schultz, was steckt hinter dem True Crime-Boom? Haben sich Kriminalromane abgenutzt?
Tanjev Schultz: Dieser Mechanismus könnte bei manchen Menschen eine Rolle spielen: dass es einen besonderen „Kick“ auslöst, wenn es eine Geschichte ist, die einen wahren Hintergrund hat oder sich tatsächlich so abgespielt hat. Allerdings sind die klassischen Krimis nicht weniger beliebt. Das heißt, Crime-Formate boomen auf allen Ebenen. Durch Streamingportale und eine Netflix-Dramaturgie, die immer ausgefeilter wird, werden die Ansprüche an Spannung immer höher geschraubt. Das könnte dazu führen, dass wir bereits viel Thrill gewohnt sind und True Crime das dann noch zu übertreffen versucht.
Wie erkennen Journalisten, ob ein Opfer „sich etwas von der Seele redet“ oder ein Verbrechen neu durchlebt?
Menschen, die Traumata erlitten haben oder retraumatisiert werden, können manchmal gar nicht weitersprechen. Man merkt, dass sie das gerade sehr berührt, dass sie sich zurückziehen müssen. Diesen Raum muss man ihnen geben und auch hinterfragen, ob es tatsächlich nötig und verantwortbar ist, alles öffentlich auszubreiten. Die entscheidende Frage stellt sich schon im Vorfeld, indem man sich sensibel herantastet. Journalisten sollten immer den Menschen im Blick behalten, den sie vor sich haben und nicht nur diese „tolle Geschichte“, die sie erzählen wollen. Übrigens gibt es durchaus Menschen, die dankbar sind, ihre Geschichte noch einmal erzählen zu können, auch öffentlich. Aber man sollte prüfen, ob das dem Menschen guttut.
„Problematische Grenzverletzung“
Zum Gerichtsprozess um den Fußballer Jérôme Boateng veröffentlicht ein Spiegel-Podcast Audioaufnahmen von dessen verstorbener Expartnerin Kasia Lenhardt. Kommt hier das mutmaßliche Opfer zu Wort?
Das könnte man so deuten. Ich habe dazu eine ambivalente Position, was jetzt speziell diesen Podcast angeht. Es ist erkennbar, dass die Autorinnen versuchen, für das Thema häusliche Gewalt zu sensibilisieren. Die Frage ist aber, ob das in einem fast voyeuristischen Sinne geschieht. Auch wenn die Familie offensichtlich das Einverständnis gegeben hat, diese Audio-Nachrichten von Kasia Lenhardt abzuspielen, sehe ich darin eine problematische Grenzverletzung. Ich finde es in ihrem Fall pietätlos, eine Stimme von einer Toten zu hören, zudem einer Person, die sich selbst getötet hat. Zu dem Zeitpunkt, als sie diese Audionachrichten aufgenommen hat, wusste sie nicht, dass das später in diesem Kontext auftauchen würde. Man sagt, es soll ihr damit Gerechtigkeit widerfahren, und es ist halt ein Podcast, der ins Ohr gehen soll. Das verstehe ich, aber es ist eben auch ein komplizierter Fall, der juristisch nicht geklärt ist und zu dem der Spiegel vieles ausbreitet, das meiner Meinung nach weniger der Sache dient als der Dramaturgie, die auf Emotionen aus ist. Es werden private Details öffentlich gemacht, die zur Klärung der Vorwürfe nichts oder wenig beitragen.
Kann ein Anstieg von Gewalttaten mit der Verbreitung von True Crime verknüpft sein?
Dass True Crime selbst Gewalt provoziert, ist eher unwahrscheinlich, auch wenn es vereinzelt Nachahmungstaten geben kann. Was eher geschehen kann, ist eine veränderte Wahrnehmung in der Bevölkerung. Wir haben zur Kriminalitätsberichterstattung Studien, die versuchen, solche Zusammenhänge zu zeigen. Menschen könnten durch die Medien eine verzerrte Wahrnehmung entwickeln und glauben, dass die Welt total gefährlich ist und überall Kriminelle lauern, obwohl das so nicht stimmt.
„Zu wenig Sensibilität“
Sie haben ein Buch über das Versagen des Rechtsstaates im NSU-Fall geschrieben. Hat diese Offenlegung etwas bewirkt?
Es hat sich zu wenig geändert, gerade im Sicherheitsapparat. Es gibt Beamte, denen ich abnehme, dass sie erschüttert waren, was alles herauskam an Versagen, und die es nun besser machen wollen. Es gab in einigen Behörden auch Reformen und Umbauten, beispielsweise beim Thüringer Verfassungsschutz. Gleichzeitig muss man jedoch sehen, dass der Rechtsextremismus keineswegs verschwunden ist und immer wieder Anschläge verübt werden – und dass dabei immer wieder ähnliche Fehler, Missstände, Skandale im Sicherheitsapparat auftauchen. Der Umgang mit Betroffenen, mit Gewaltopfern, gerade von rechtsextremer Gewalt, lässt regelmäßig zu wünschen übrig. Und – um nur einen Fall zu erwähnen – der Fall in Hanau hat gezeigt, dass nach dem NSU erneut vieles passiert ist im Umgang mit Angehörigen, was nicht hätte passieren dürfen. Es herrscht zu wenig Sensibilität im Umgang mit diesen Menschen. Ich finde es bestürzend, dass so wenig aus dem Versagen im NSU-Fall gelernt worden ist.
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