Jedes Jahr veröffentlicht die dänische NGO Freemuse den Bericht „The State of artistic freedom“, eine Bestandsaufnahme über künstlerische Freiheit weltweit. Es ist gleichermaßen ein Weckruf. In Ländern, in denen das Menschenrecht auf freie Meinungsäußerung strukturell missachtet wird, leben Kunstschaffende in der Gefahr von Verfolgung, Bestrafung und im schlimmsten Fall politisch legitimiertem Mord. Im diesjährigen Dokument ist die beispiellose Unterdrückung von künstlerischem Widerstand in zehn Länderberichten markiert, darunter China, Myanmar, Kuba, Russland, Iran und Nigeria. Die zunehmende Zahl von Todesstrafen „unter und über dem Radar“ korreliert mit Entwicklungen in der Medienbranche. Die Zahl der Festnahmen von Journalist:innen ist im Vergleich zum Vorjahr um 20 Prozent gestiegen.
Angestoßen durch die mittlerweile 25-jährige Arbeit von Freemuse hat sich Safemuse gegründet. Der gemeinnützige und überparteiliche Verein mit Sitz in Oslo tritt seit 2013 mit konkreten Maßnahmen für Freiheit und internationale Solidarität in der Kunstwelt ein. Das umfassendste Programm trägt den Titel „Safe Residency“. Jedes Jahr ermöglicht es zwei Künstler:innen, fern des zensurbelegten Heimatlandes für sechs Monate an einem sicheren Zufluchtsort in Norwegen zu leben und zu arbeiten.
Schutzzonen weltweit
Mit der Unterstützung des Kulturministeriums zum weltweit ersten „save haven“ für Musik.
Der Gründungsgedanke von Safemuse war, im Namen der Musik gegen die Zensur vorzugehen. Ein weltweites System von Schutzzonen für Literaten und Journalisten, ebenfalls mit Sitz in Norwegen, existiert bereits seit den 90ern: ICORN (International Cities of Refuge Network) umfasst heute 85 überwiegend europäische Städte, davon etwa zwei Drittel in Skandinavien, sowie einzelne Mitglieder in Nord- und Südamerika. Initiiert durch den Musiker Jan Lothe Eriksen und unter der Schirmherrschaft von Creo (Verein für Kunst und Kultur, ehemals Musikergemeinschaft) und NOPA (Norwegische Gesellschaft der Komponisten und Texter) gründete sich Safemuse 2013 mit dem Ziel, „sichere Häfen“ auch für die Musik zu schaffen. Maßgeblich war die finanzielle Unterstützung durch das norwegische Außenministerium, das Kulturministerium und den Norwegischen Gewerkschaftsbund. Auf die Anfrage von Safemuse hin erklärte sich das norwegische Städtchen Harstad zum weltweit ersten safe haven für Musik und inspirierte viele weitere Orte. In den Worten der damaligen Präsidentin der Norwegischen Musikergewerkschaft: „Dies ist ein Meilenstein in unseren Bemühungen um die Freiheit der künstlerischen Meinungsäußerung und die Menschenrechte“. Ab 2014 verlagerte Safemuse den Fokus auf die Organisation unabhängiger Aufenthalte und hieß als ersten „Artist in Residency“ den iranischen Black Metal Künstler Sina Winter willkommen. Seit bald 10 Jahren agiert die Non-Profit-Organisation – wie auch mittlerweile die Impulsgeber Freemuse und ICORN – für die Freiheit aller Kunstrichtungen, nicht allein in der Musikcommunity. Der selbsterklärte Zweck ihrer Arbeit lautet, die Meinungsfreiheit und die Verteidigung demokratischer Werte in Solidarität mit allen Kunstschaffenden weltweit zu fördern. Zentrale Artikel des UN-Pakts zu Menschenrechten bilden die inhaltliche Basis.
Gremium prüft Schutzbedarf
Neue Projekte sollen den Austausch fördern und sichtbarer machen. Am 3. März 2023 tagte in Oslo zum wiederholten Mal das von Safemuse gegründete „Fri Kunst“. Die jährliche Konferenz zwischen internationalen Akteuren und Organisationen, Kunstschaffenden aus den Residenzprogrammen sowie der lokalen Szene, diskutiert die Kunstfreiheit unter autoritären Regimen und konkrete Strategien für solidarisches Handeln.
Die Auswahlphase für das Residency Programm von 2024 läuft. Die Zugangsschwelle liegt niedrig. Wer ab April 2024 entweder in Oslo oder der fünfzig Kilometer entfernten, geschichtsträchtigen Stadt Hvitsten zu Gast sein möchte, konnte sich bis Juni über ein Onlineformular bewerben: mit einer Dokumentation der künstlerischen Arbeit und einer Beschreibung der persönlichen Situation hinsichtlich Zensur, Drohungen oder Verfolgung. Ein Gremium aus Vertretern von Kunst- und Kulturinstitutionen, Menschenrechtsberatern, Künstlerinnen und dem Safemuse-Team prüft die streng vertraulichen Unterlagen. Auf Basis der hierauf folgenden Interviews fällt die Auswahl bis Oktober 2023.
Maßnahmen individuell abgestimmt
Die beiden neuen Residenzkünstler werden durch ein Mentor- und Koordinationsprogramm aufgefangen. Die Kosten für Reise, Visum, Versicherung und Unterhalt werden komplett abgedeckt, für die erste Residenz zum Beispiel durch die Gemeinde Oslo. Je nach Wunsch des Kunstschaffenden gestalte sich Inhalt und Ziel der Residenz unterschiedlich, erklärt der Safemuse-Berater und frühere Manager Jan Lothe Eriksen. Es werden etwa Kooperationen mit norwegischen Künstler:innen ermöglicht, Ausstellungen vor Ort organisiert oder eine persönliche Risikobewertung hinsichtlich Rückkehr und Medienauftritt durchgeführt.
Der renommierte Theaterregisseur Wang Chong aus Peking spricht in einem Interview über die Rückgewinnung der Freiheit von Google, Youtube und Wikipedia während seiner Künstlerresidenz 2022. „These things are not something to talk about or worry about in the Norwegian context, but I have to say these freedoms are forming a new foundation to my creativity.“ In Oslo war er frei, an neuen kritischen Werken zu arbeiten, darunter einem AI-generierten Kurzfilm über die Gesellschaft der Zukunft oder eine Dokumentation über den 29-jährigen chinesischen Künstler Hu Bo, der 2017 Selbstmord beging. Zhanna Gladko, Künstlerin aus Belarus, konzipierte eigens für das Kunstfestival Hvitsten Salong eine Außeninstallation zum Thema Postwahrheit und Desinformation in den Medien – wofür sie in Weißrussland verhaftet werden könnte. Über das hauseigene Plattenlabel LIDIO wird Teilnehmenden aus der Musikszene, wie der afghanisch-iranischen Sängerin Ghawgha Taban, eine langfristige Plattform gegeben. In der Zusammenarbeit mit einem norwegischen Trio veröffentlichte die Gastkünstlerin, die auch das Fri Kunst 2023 mitgestaltete, ihre erste EP „Landless Tree“. Weil sie auf Hazara singt, der Sprache einer verfolgten und massakrierten Minderheit in Afghanistan und Iran – zumal sie eine junge Frau ist – muss Taban in ihrem Herkunftsland mit Todesdrohungen rechnen.
Knappe Mittel, große Visionen
Ein Problem Faktor bleibt das Geld. Da die Finanzierung der halbjährigen Aufenthalte von lokalen Partnern oder städtischen Gremien abhängt und Safemuse trotz staatlicher Unterstützung weiterhin auf Spenden angewiesen ist, bleibt die Quote bisweilen ernüchternd. Zwei Auserwählte seien angesichts der vielen tausenden Schutzsuchenden deprimierend wenige, räumt Jan Lothe Erisken ein. Die Vision für die Zukunft seien größere Mittel und ein ausgeweitetes Netzwerk an norwegischen Partnerstädten, an dem Safemuse bereits arbeitet. Noch sind es einzelne Künstlerpersönlichkeiten, denen die norwegische Organisation Schutz auf Zeit und eine Stimme gewährt – bevor sie zurück in ihre Heimat oder in den nächsten safe haven ziehen. Mit jedem Projekt, ob lokalem Festival oder internationaler Konferenz, und jeder neuen Vernetzung leistet Safemuse aber bereits konkrete Arbeit im Feldzug gegen die Zensur in der Kunst, getragen von Humanismus und Idealismus: „Wir haben die Freiheit, diese Arbeit zu tun. Das ist Grund genug sie zu tun“, lautet die Selbstaussage.
GRENZVERLETZUNG - Aktiv im Thema
deutschlandfunkkultur.de/verrohte-gespraechskultur-der-wille-zum-missverstaendnis-100.html | Der Philosoph Arnd Pollmann pointiert, wie „gezieltes Falschverstehen“ öffentliche Debatten skandalisiert, um die eigene Deutungshoheit durchzusetzen.
kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de | Gegen Hassrede und Gewalt im Internet haben sich vier Organisationen zusammengeschlossen: Das Nettz, Hate Aid, Jugendschutz.net und Neue deutsche Medienmacher*innen.
woche-der-meinungsfreiheit.de | Die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels initiierte Aktion macht „auf die Bedeutung der Meinungsfreiheit für eine freie, demokratische und vielfältige Gesellschaft aufmerksam“.
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