choices: Herr Mangold, Sie haben sich viel mit der Cancel Culture auseinandergesetzt. Wo liegt der Unterschied zwischen legitimer Kritik und Canceln?
Ijoma Mangold: Bevor die Cancel Culture als Begriff aufkam, sprach man viel von „Deplatforming“. Ich glaube, dieser Begriff drückt den Zweck der sozialen Praxis, die die Cancel Culture darstellt, ganz gut aus: Es geht darum, dass jemand keine Bühne bekommen soll, weil der Verdacht besteht, dass seine Äußerungen eine virale Bösartigkeit besitzen, die andere verletzen oder sogar traumatisieren könnte. Das ist aber eigentlich eine Argumentation mit dem Ausnahmezustand; nur wenige Äußerungen sind tatsächlich so schlimm, dass sie einen solchen Bann rechtfertigen. In Deutschland ist das zum Beispiel die Holocaustleugnung. Dass die meisten Äußerungen erst mal stattfinden können sollten, gilt natürlich auch für Kritik, gerade scharfe Kritik ist ja ebenfalls ein Erkenntnisinstrument. Die Vorstellung der Cancel Culture ist es hingegen, dass es besser ist, wenn bestimmte Positionen erst gar kein Gehör finden.
Dann ist die Kritik zunächst immer legitim?
Unbedingt: Kritik, die das offene Gefechtsucht, ist immer willkommen. Mich besorgen deshalb auch weniger die Aktivisten der Cancel Culture, die gerne in moralischer Selbstgerechtigkeit solche Forderungen nach Deplatforming stellen, sondern mich besorgt die Feigheit der Mitte. Institutionen knicken gerne ein vor öffentlichem Druck, weil sie keinen Ärger wollen. Das sehen wir, wenn Vorträge von Universitätsleitungen abgesagt werden oder Beiträge gelöscht werden, wie es zum Beispiel beim Beitrag von Dieter Nuhr auf der DFG-Seite der Fall gewesen ist. An diesen Einzelfällen sieht man gut, was mit Cancel Culture eigentlich gemeint ist.
„Es bringt uns um die Chance, klüger zu werden“
Wer bestimmt, ob eine Position wirklich keinen Platz im Diskurs finden soll? Der Gesetzesgeber, wie im Falle der Holocaustleugnung?
Prinzipiell kann und sollte der Gesetzesgeber nicht bestimmen, was gesagt werden darf. Das Verbot der Holocaustleugnung stellt eine historisch nachvollziehbare Ausnahme in Deutschland dar. Der Grund, weshalb es darüber hinaus keine Beschränkungen der Meinungsfreiheit gibt, ist, dass man sonst aus der Begrenztheit des Moments, in dem man ein solches Gesetz erlässt, auf die Unveränderlichkeit dieser Einsicht rückschließen würde. Wir wissen aber, dass es keine unveränderlichen Wahrheiten gibt – nur ein Streben danach. Würden wir immer schon wissen, was wahr und was falsch ist, bräuchte es auch keine Meinungsfreiheit; dann könnte man ins Gesetz schreiben „Gesagt werden darf nur, was wahr ist!“. Weil das aber nicht der Fall ist, brauchen wir öffentliche Bühnen als Explorationsort, auf der um die Wahrheit gerungen wird. Natürlich hat jeder Impresario das Recht, nur die auf seiner Bühnen willkommen zu heißen, die er für „die Guten“ hält. Eine solche rigide Vorsortierung ist juristisch einwandfrei – aber gleichzeitig feige, mutlos und dumm, denn es bringt uns um die Chance, klüger zu werden. Nachdenken meint doch: überrascht werden wollen, nicht vorher schon zu wissen, was eine legitime Meinungsäußerung ist und was nicht.
Trotzdem sind öffentliche Diskussionsorte begrenzt. Ist es dann vielleicht sinnvoll, einigen Positionen weniger Gehör zu verschaffen?
Da muss man zwischen den Sphären der Politik und der Diskussion unterscheiden. Das politische System ist eine zeitkritische Sphäre, Politik muss irgendwann zu einer Entscheidung kommen. Das ist ihre Aufgabe und auch ihre Pflicht. Gleichzeitig hoffe ich aber, dass die öffentliche Diskussionskultur weiterläuft, auch wenn die Politik bereits gehandelt hat. Das haben wir zum Beispiel schon bei Corona gesehen, wo nun Diskussionen nachgeholt werden, für die in den Hochzeiten der Pandemie vielleicht keine Zeit war. Bei keinem Thema, behaupte ich, gibt es diesen Konsens-Punkt, an dem man sagen kann: Jetzt ist aber auch mal gut. Es gibt eben nur den ewigen Prozess der Wahrheitssuche. Zum Glück! Das bewahrt uns vor dem Laster der geistigen Bequemlichkeit.
„Wer sollte denn darüber entscheiden, was nicht zulässig ist?“
Kann es denn Positionen geben, die nicht zulässig sein sollten, weil sie sich negativ auswirken?
Aber wer sollte denn bitte darüber entscheiden, was nicht zulässig ist? Eine Wahrheitsinstanz? Oder eine oberste Sensibilitätsinstanz? Wenn wir zum Beispiel der Meinung sind, Sätze, die andere potentiell verletzen könnten, sollten vom Diskurs ausgeschlossen werden, dann bräuchten wir eine oberste Instanz, die darüber entscheidet, welche dieser Verletztheitsgefühle legitim sind und welche nicht.
In der Diskussion ums Canceln geht es ja weniger um individuelle Verletztheit, sondern um allgemeine Diskriminierungserfahrungen. Haben wir keine Sorgfaltspflicht?
Grundsätzlich ist es einfach so: Denkverbote machen uns dümmer. Vielleicht stellen sich Positionen ja auch als nichtig heraus, aber dafür müssen sie erst durchgespielt werden. Bestimmte Sprechakte sind aber in der Tat keine Meinungsäußerungen mehr, sondern Straftatbestände. Wir besitzen auch Antidiskriminierungsgesetze, obwohl es natürlich nicht immer ganz klar ist, wie gut diese dann auch funktionieren. Darüber hinaus dann aber noch den Debattenraum eingrenzen zu wollen, halte ich für unsinnig. Die soziale Praxis, wie ich mich anderen gegenüber verhalten darf, besteht natürlich trotzdem – da geht es zum Beispiel darum, wie ich jemandem am Arbeitsplatz begegne. Aber auch diese Normen sind ja wiederum auch Ergebnis eines Debattenraums, in dem es mehr Platz geben muss, Positionen durchzuprobieren, als es im gesellschaftlichen Comment der Fall ist – auch wenn man sich mal von ihnen verletzt fühlt.
„Je mehr überraschende Meinungen zu Wort kommen, als desto lebendiger empfinde ich den Austausch“
Das heißt, das muss man in Kauf nehmen?
Ich würde sogar sagen: Es ist Teil meines eigenen Reifungsprozesses, meine eigene Empörtheit nicht zu verabsolutieren, sie nicht zu ernst zu nehmen. Das schöne Ziel einer zivilisierten Gesellschaft ist es doch nicht, dass alle die gleiche Meinung haben müssen, um sich nicht die Köpfe einzuschlagen, sondern dass wir uns nicht die Köpfe einschlagen, obwohl wir alle sehr verschiedene Weltperspektiven haben. Das sollte der Maßstab unseres Affektmanagements sein.
Macht es einen Unterschied, ob es sich um eine öffentlichen Ort handelt oder beispielsweise um den Arbeitsplatz?
Ja, das hat schon was mit Orten zu tun. Ein Arbeitsplatz sollte nicht der Ort sein, wo man die verrücktesten Gedanken seiner Kollegen ertragen muss. Eine Talkshow könnte jedoch vielleicht schon dieser Raum sein, weil jeder, der dort eingeladen ist, damit rechnen muss, auch mit Positionen konfrontiert zu werden, die etwas in einem auslösen.
Das hat vielleicht etwas mit der Schutzwürdigkeit mancher Räume zu tun?
Ja, da würde ich Ihnen zustimmen.
Wie lässt sich diese Debattenkultur entwickeln?
Ich denke: Je mehr überraschende Meinungen zu Wort kommen, als desto lebendiger empfinde ich den Austausch. Konkret appellieren würde ich da in unserem Fall aber eigentlich nur an bestimmte Institutionen. Staatliche Verwaltungen und das Kapital haben gewisse woke Positionen so sehr vermachtet, dass ich mir in diesen Diskursräumen wieder etwas mehr Anarchie wünsche.
GRENZVERLETZUNG - Aktiv im Thema
deutschlandfunkkultur.de/verrohte-gespraechskultur-der-wille-zum-missverstaendnis-100.html | Der Philosoph Arnd Pollmann pointiert, wie „gezieltes Falschverstehen“ öffentliche Debatten skandalisiert, um die eigene Deutungshoheit durchzusetzen.
kompetenznetzwerk-hass-im-netz.de | Gegen Hassrede und Gewalt im Internet haben sich vier Organisationen zusammengeschlossen: Das Nettz, Hate Aid, Jugendschutz.net und Neue deutsche Medienmacher*innen.
woche-der-meinungsfreiheit.de | Die vom Börsenverein des Deutschen Buchhandels initiierte Aktion macht „auf die Bedeutung der Meinungsfreiheit für eine freie, demokratische und vielfältige Gesellschaft aufmerksam“.
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