„Auch wenn wir uns noch so sehr bemühen, unseren Geist zu kultivieren und die Persönlichkeit zu bilden – der Körper macht uns alle wieder gleich.“ [Peter Liechti]
Nicht, dass ich heute Morgen in der Kirche gewesen wäre. Aber zu „Christi Himmelfahrt“ kann einem schon mal so mancher Gedanke zum Leben, Erleben, Überleben, Verleben und schlussendlich Ableben kommen. Der Apparat „Mensch“ ist da ja erst mal recht eindimensional gestrickt: in die Welt geworfen, um abzunibbeln; trotz aller biologischen und/oder kybernetischen Frischzellenkuren. Warum in Gottes Namen also den Mund aufmachen und Humanismus predigen – wenn man nicht darauf versessen ist, die Abwicklung der eigenen Existenz zusätzlich zu beschleunigen?!
Was treibt uns zum Leben, was zum Leben, wie wir es leben? Taucht man in die – vom ehemaligen Kriegsreporter Arturo Pérez-Reverte zu literarischem Leben erweckte – Biografie der einst mächtigsten Frau im Drogengeschäft ein, springt einen der pure Überlebenstrieb regelrecht an. Ein Anruf, der für die Geliebte eines Drogenkuriers den Tod bedeutet. Eine Flucht. Eine scheinbar sichere Existenz. Und dann doch der unaufhaltsame Aufstieg zur „Königin des Südens“ [Suhrkamp]. Aus Rache? Aus Stolz, Dickköpfigkeit oder doch nur Zufall? Weil Situationen situative Entscheidungen kreieren? / Und dann ist es trotz aller Kultiviertheit ein schlichter Reflex, der wie in Martin Beyers erster von dreizehn bitter-süßen „Mörderballaden“ [Asphalt & Anders] den Abgang heraufbeschwört. Es ist der ultimative Moment, in dem das Schicksal implodiert und nichts als die leere Hülle der Sinnhaftigkeit übrig bleibt. / Und die Hinterbliebenen, die sich plötzlich mit dem eigenen Sein und dessen vermeintlicher Wertigkeit konfrontiert sehen. Schon bricht sich der triebhafte Wahn, der bis dato nur als Gewalt-, Sex- oder Autoaggressionsfantasien unter der Oberfläche gelauert hat, unvermittelt Bahn. Man muss lachen und könnte heulen, wie hilflos sich die Mitschüler des vom „Vollstricker“ kunstvoll in einen Maschendrahtzaun genähten Opfers gegenseitig/selbst ‚zerfleischen‘. Dabei ist Jakob Noltes „ALFF“ [Matthes & Seitz] nichts anderes als eine aberwitzige Groteske über eine Jugend/Gesellschaft in bipolarer Depression. / In einer egoman befeuerten Spirale aus Gewalt versus Grausamkeit. Heldenhaft-menschlich versucht Streak Robicheaux, selber kein Kind von Traurigkeit, in James Lee Burkes „Mississippi Jam“ [Pendragon] Halbwelt, Cops, dem personifizierten Bösen und nicht zuletzt seinem Partner Einhalt zu gebieten – und vergisst dabei seine eigene heimelige Existenz. / Dabei könnte es so schön friedlich sein: In der freien Natur oder dem Garten Beeren lesen und Kräuter ziehen, um sich mit Nick Moyle & Richard Hood seine eigenen „Bier, Wein, Likör & Co.“ [h.f. ullmann] zu kredenzen. Eins werden. Mit sich. Nur draußen ist feindlich.
Aber Pustekuchen! Basisdemokratisch schlummert der Tod in jedem von uns. Statt sein ‚Manifest‘für die Menschlichkeit zu vollenden, fristet der Filmemacher Peter Liechti seine letzten Tage im Spital. Zerrissen zwischen fotografischen Erinnerungen an die Menschen im Südsudan und der unbarmherzigen Kälte der Urologie. Gefangen im verdammten Leib. Wie jedermann. Doch:
„Tröstet mich diese Erkenntnis, oder deprimiert sie mich? Am ehesten müsste ich wohl sagen: Ich traue ihr nicht.“ [aus „Dedications“, Scheidegger & Spiess]
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