choices: Frau Kapteinat, wie sind Sie zur Politik gekommen?
Lisa Kapteinat: Zur Politik gekommen bin ich über das Kinder- und Jugendparlament, das es bei uns in Castrop-Rauxel gab. Wo man spielerisch, aber durchaus nach den normalen Regeln einen Bezug zur Politik entwickeln konnte. Man hatte auch Sprachrecht im Jugendhilfeausschuss. Aus dem Jugendforum heraus bin ich dann bei den Jusos gelandet, der Jugendorganisation der SPD. 2004 habe ich mich dann dazu entschieden, der SPD beizutreten. Wobei man auch noch dazu sagen kann, dass ich familiär ein bisschen vorbelastet bin.
Inwiefern?
Meine Eltern sind beide SPD-Mitglieder und mein Vater war auch ganz lange im Stadtrat in Castrop-Rauxel aktiv. Da ist Politik zuhause einfach Thema.
Sie sitzen für den Wahlkreis Recklinghausen seit diesem Jahr im Landtag NRW. Was machen Sie dort?
Hier gibt es zum einen die Arbeit in den Fachausschüssen, wo man landesübergreifend tätig ist und zum anderen die Arbeit im eigenen Wahlkreis. Ich bin Mitglied im Innenausschuss und im Rechtsausschuss. Im Rechtsausschuss bin ich auch Sprecherin für die SPD und darüber hinaus stellvertretende Vorsitzende im parlamentarischen Untersuchungsausschuss Amri. Die Konstituierung der Ausschüsse war erst Mitte Juli, nachdem klar war, wie sich die Regierung bildet und welche Ausschüsse eingesetzt werden. Und jetzt ist erst einmal Sommerpause. Das bedeutet, dass keine regelmäßigen Termine im Landtag stattfinden, sondern dass man in erster Linie vor Ort Wahlkreisarbeit macht oder sich mit den Referenten abstimmt. Die fachliche Arbeit geht erst Anfang September weiter. Bei der Wahlkreisarbeit ist es so, dass man übergreifend zu allen möglichen Themen Ansprechpartner ist. Nicht immer kann man was dazu sagen, weil es vielleicht gar kein Landesthema ist oder man sich erst einmal noch schlau machen muss. Aber die Leute wissen, wenn ich die anhaue, dann kriege ich doch irgendwie eine Rückmeldung oder sie haben zumindest schon einmal eine Idee: „Wen kann ich denn da ansprechen? Die hab’ ich schon mal gesehen.“
Vorher in der Kanzlei, jetzt im Landtag. Was hat sich für Sie verändert?
Einer der wesentlichen Unterschiede ist: Man ist immer ansprechbar. Da geht es um Anfragen, die ich den Kollegen noch um 21.30 Uhr schicke. Was dann aber nicht bedeutet, dass ich von morgens 7 Uhr bis abends 21.30 Uhr strikt dahinter gesessen habe, aber die Arbeitszeiten haben sich verschoben.
Die Landtagswahl hat der SPD in NRW enorme Verluste gebracht. Ihr Wahlkreis war mit etwa 10 % betroffen. Die Gewinner: CDU, FDP und Linke. Was sind die Ursachen?
Man hat in alle möglichen Richtungen überlegt, weil es natürlich eine herbe Enttäuschung war. Zum Einen haben wir sehr stark verloren, das ist völlig außer Zweifel. Man muss aber dazu sagen, dass wir beim letzten Mal 2012 auch sehr stark waren. Trotzdem war es ein deutliches Zeichen. Ich glaube, dass auch unser Wahlkampf eine Rolle gespielt hat. Damit meine ich nicht das Engagement der Kandidaten oder das der Ehrenamtlichen. Ich denke, wir haben auf den Plakaten zu wenig polarisiert. Ein weiterer Grund mag sein, dass wir zu sehr die Strategie Rot-Grün gefahren und uns wenig abgegrenzt haben.
Was stört Sie an der heutigen Politik?
Ich glaube, dass Politik oft nicht eindeutig genug ist. Dass man nicht klar sagt, warum man eine Entscheidung so oder anders trifft. Bestes Beispiel sind Koalitionen. Ich finde es ehrlicher, wenn Partei x sich hinstellt und sagt: „Wir sind davon nicht überzeugt, aber wir haben einen Koalitionsvertrag, und im Gegenzug dafür haben wir etwas bekommen. Ihr könnt entscheiden, ob wir gut verhandelt haben oder nicht. Aber das ist der Grund, warum es zu dieser Entscheidung gekommen ist.“ Wenn aber bei den Leuten ankommt, der hat seine Meinung geändert, vor drei Wochen fand er das noch doof und jetzt findet er es gut, dann ist es schwierig, das nachzuvollziehen. Egal, ob es um Innen- oder Außenpolitik geht. Den allermeisten Kollegen, egal von welcher demokratischen Partei, würde ich zusprechen, dass sie wirklich davon überzeugt sind, dass ihr Plan für die Gesellschaft der beste ist.
Heute an morgen denken. Sich Posten für später sichern. Wie kommt es, dass die Privatwirtschaft so eng mit der Politik verzahnt ist?
Zum Einen glaube ich nicht, dass es darum geht, sich den Posten von morgen zu sichern. Wenn man allerdings lange in einem bestimmten Amt war, würde ich eine gewisse Karenzzeit für richtig halten. Dass man nicht mehr sagen kann: Der hat noch alle Papiere gedanklich im Kopf, die in den nächsten Monaten auf den Tisch kommen, und von denen ein Unternehmen profitieren kann. Denn man kann ja schlecht ausblenden, was man unbewusst weiß. Andererseits: Ein Politiker bekommt kein Arbeitslosengeld, sobald er aus seinem Amt raus ist. Das heißt, man muss sich schon überlegen, wie es danach weitergeht. Eine Möglichkeit sind Übergangsgelder, die gibt es ja zum Teil. Jetzt gibt es die Einen, die im öffentlichen Dienst sind, die können schnell wieder zurück. Die Anderen müssen sich aber etwas überlegen. Wenn es zum Übergang in die Wirtschaft kommt, hat es wahrscheinlich auch damit zu tun, dass man sich kennt. Das gibt es ja auch in der freien Wirtschaft: Wenn bestimmte Leute in bestimmten Kreisen zirkulieren, dann wechselt man auch schneller hierher. Ich glaube, neben Karenzzeiten ist es wichtig einem Politiker ein gewisses Übergangsgeld zu zahlen und zu sagen: Man darf nicht in genau dem gleichen Bereich arbeiten. Aber da wird es wahrscheinlich immer Graubereiche geben.
Wir sehen beim Abgasskandal, dass die Unternehmen sehr gut wegkommen. Wie ist es möglich, dass Sanktionen lax ausfallen und die Industrie nicht deutlich in die Pflicht genommen wird?
Das frage ich mich auch manchmal. Wenn Unternehmen dabei scheinbar zu gut weg kommen, hat das nicht immer mit politischen Entscheidungen zu tun, sondern manchmal ist es einfach die Gesetzeslage. Dazu muss man einen bestimmten Betrug erst einmal nachweisen können. In den USA hat die Gesetzeslage das ermöglicht, da gab es horrende Strafen. Bei uns sieht es anders aus. Gerade bei den Managern, finde ich, muss man schon gucken, inwieweit wussten die Bescheid. Und dementsprechend muss es Konsequenzen geben. Die Lösung kann aber nicht sein: Wir machen VW platt. Da leiden dann vielleicht fünf Manager darunter, aber wie viele normale Arbeiter und wie viele Zulieferbetriebe sind ebenso davon betroffen? Im Fall von VW bin ich auch frohen Mutes, dass es noch zu Konsequenzen kommen wird. Das Ganze ist relativ frisch und muss entsprechend aufgearbeitet werden. Schnellschüsse sind da fehl am Platz.
Könnte eine stärkere Form der Regulierung helfen?
Ich bin zwar Rechtsanwältin, aber mit diesem Thema habe ich mich zu wenig befasst, als dass ich da eine wirklich fundierte Aussage treffen könnte. Ich glaube schon, dass es stärkere Regulierungsmaßnahmen gibt. Die Politik hat immer die Möglichkeit, gesetzlich etwas festzuzurren. Mit einem neuen Gesetz beispielsweise.
Kohl-Ära, Merkel-Ära: Wird es in der Politik weiterhin das Wegboxen potenzieller Konkurrenten geben? Oder werden die Parteien durch die junge Generation aufgemischt?
Man könnte jetzt einerseits sagen, das Wegboxen hat sich bewährt. Beide sind ja lange relativ erfolgreich damit gefahren. Ich glaube, dass viele Deutsche eine gewisse Sicherheit mögen, nach dem Motto: „Da finde ich zwar nicht alles toll, aber da weiß ich wenigstens, was ich daran habe.“ Wenn man hinter der Person ein Vakuum entstehen lässt, kann das deutlich werden. Wenn nicht klar ist, wie es weitergeht. Deswegen hoffe ich, dass eine neue Politikgeneration die Chance ergreift und daran etwas ändert. Das Ganze auf mehrere Schultern verteilt, um im Notfall nicht alleine da zu stehen. Alle Parteien haben, abgesehen vom letzten Jahr, in den letzten Jahren viele Mitglieder verloren, und gleichzeitig sind die Mitglieder in den Parteien immer älter geworden. Dass man niemandem mehr sagen kann: „Bevor du dich beim Stammtisch oder der Ortsgruppe äußerst, verteilst du erst mal drei Jahre lang in jedem Wahlkampf zehntausend Flyer und plakatierst ordentlich. Dann sprechen wir weiter.“ Dass das so nicht mehr funktionieren wird, musste erst mal in der Politik ankommen.
Das bedeutet, Sie präferieren eine Doppelspitze?
Nicht unbedingt. Doppelspitze klingt oft ganz toll, ich habe es in einigen Formen gesehen, doch hinterher ist eben die Frage: Wer ist in letzter Konsequenz verantwortlich? Deshalb bin ich davon kein großer Fan. Hat man allerdings einen guten Vorstand, in dem jeder seine Aufgaben hat, dann weiß man hinterher, wer der nächste Vorsitzende werden kann. Fällt einer aus , weil er in Urlaub ist oder sich ein Bein gebrochen hat, dann sind da Leute, die das auffangen können. Das ist schon wichtig.
Wir denken in die Zukunft: Wie würden Sie es in 20 Jahren halten: eher Wegboxen oder Kooperation?
Nach nicht mal drei Monaten im Landtag ist die Vorstellung doch recht weit weg. Dennoch würde ich sagen, eindeutig Kooperation. Aus meiner Erfahrung als Anwältin – das ist ja grundsätzlich schon ein streitbarer Beruf – habe ich kein Problem damit, mal anderer Meinung zu sein oder auch etwas vehement zu verteidigen. Aber in der Politik ist es wichtig, dass man sich abspricht. Und dass es immer noch Leute gibt, die einem klar ins Gesicht sagen, was man falsch oder richtig macht. Und es ist wichtig, dass man mit mehreren Leuten gut zusammen arbeiten kann, weil es auch viel mehr Spaß macht. Ich stelle mir Spitzenpolitik alleine sehr einsam vor.
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