Sie wirken wie eine Spiegelung, die Comics von Fumio Obata und Igort: Fumio Obata erzählt in „Irgendwo zu Hause“ von der Japanerin Yumiko, die in London mit Freunden eine Designagentur gegründet hat. Hier fühlt sie sich heimisch. Doch als ihr Vater stirbt, muss sie zurück nach Japan – wo sie sich nun fremd fühlt. Die Geschichte ist fiktional, aber auch Obata ein in London lebender Japaner. Vom Manga ist er weit entfernt und erzählt seine ruhige, emotionale Geschichte ‚europäisch‘, sowohl in Bezug auf Rhythmus, Umfang, Realismus als auch den Stil seiner Aquarellzeichnungen (Carlsen). Was bei Obata fiktionalisierte Biografie ist, ist in Igorts „Berichte aus Japan“ essayhafte Biografie unter umgekehrten Vorzeichen: Der Italiener landet vom Fernweh getrieben in den 90er Jahren als Zeichner in Japan, wo er europäisch anmutende Mangas zeichnet. 25 Jahre nach seiner ersten Japanreise erinnert sich Igort an die Verwunderung über – wie auch an die Bewunderung für – diese komplexe, widersprüchlich erscheinende Kultur zwischen Stille und Krach, Ruhe und Hektik, Gewalt und Schönheit. Er schwärmt für die Filme von Seijun Suzuki und Takeshi Kitano, die Malerei von Hokusai, erzählt von Disziplin, von Wahn und von der Stille im Kloster. Igorts Blick auf Japan ist sowohl inhaltlich als auch stilistisch, in seiner Mischung aus klassischen Comicpassagen, Bildtableaus, Texten und Fotos so reichhaltig wie die Kultur dieses Landes (Reprodukt).
Eine brisante Innenansicht schildert Kazuto Tatsuta mit „Reaktor 1F“. Gerade ist der zweite Band des dreiteiligen Mangas erschienen, mit denen der Autor im Stile von Günter Wallraff undercover einen „Bericht aus Fukushima“ vorlegt. Tatsuta lässt sich für die Aufräumarbeiten im 2011 in Japan havarierten Reaktor anwerben, der sachlich gehaltene Reportage-Manga erscheint unter einem Pseudonym. Tatsua erzählt von den Arbeitsbedingungen, den Dumpinglöhnen, dem Geschäftsmodell mit etlichen Subunternehmen bis hin zur Mafia, die hinter dieser lebensgefährlichen Arbeit steht (Carlsen). Noch ein Sachbuch: Mit „Der Beeinflussungsapparat“ widmen sich die Journalistin Brooke Gladstone und der Zeichner Josh Neufeld der Frage „wie Massenmedien funktionieren, wie sie unsere Gesellschaft manipulieren und wie wir dazu beitragen“. Dass das Ergebnis mit dem populistischen Schlachtruf „Lügenpresse“ nichts gemein hat, versteht sich, auch wenn einige der Theorien aufhorchen lassen: Gladstone erforscht die Geschichte des Journalismus, klärt über das Verhältnis von Journalisten zu Politikern und zur Wahrheit auf und untersucht den Reiz schlechter Nachrichten – und das alles in kurzweiligen Zeichnungen. Ein kluges und extrem aktuelles Buch (Correkt!v).
René Goscinny ist weltberühmt als Autor von Asterix, der Zeichner Gotlib ein vor allem im französischen Sprachraum bekannter satirischer Zeichner. Gemeinsam arbeiteten sie von 1965 bis 1968 unter dem Einfluss der amerikanischen Zeitschrift MAD an der Serie „Die Dingodossiers“, mit der sie sich pseudojournalistisch verschiedensten Alltagsthemen wie Arbeitswelt, Familie, Reise, Kultur etc. widmeten. Bislang noch nicht auf Deutsch erschienen, versammelt die Gesamtausgabe auf knapp 300 Seiten alle der recht textlastigen Strips des Duos, die mitunter etwas dated wirken, meist aber ihren Witz und Biss nicht eingebüßt haben (Toonfisch-Verlag).
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