Ja klar, die Welt ist groß. Riesengroß. So unermesslich groß, dass eigentlich keine Wünsche oder Sehnsüchte offen bleiben sollten. Was für ein Versprechen! Was für ein leeres Versprechen!!! Grenzen, überall Grenzen. Von staatlich oder systembedingt festgelegten Demarkationslinien bis zu jenen Wällen, die sich innerhalb jeder Kultur zwischen den Klassen und Kasten auftürmen. Und am allerschlimmsten: die Zivilisation, das Volk höchstpersönlich, der sozialisierte Bürger, der in perfider Verblendung und tumber Nachäffung die anmaßenden Normen und Zuweisungen auch noch mit Klauen und Zähnen und geiferndem Gebell verteidigt, sich als wahre Exekutive erweist.
Entsprechend desillusionierend kommen Mary Millers Short Stories rüber: Die „Big World“ [dtv] ist kein Ponyhof. Und verdammt small noch dazu. Wie eine Schlinge zieht sich das Leben um den Hals der Protagonistinnen. Ob hübsch, cool, tough oder Mauerblümchen. Es scheint kein Entrinnen zu geben. Leere Freundschaften und verkrachte Beziehungen werden ertragen oder durch die nächste ersetzt. Lecks werden nicht mal notdürftig gestopft. Zu mehr reicht die Kraft nicht. Braindrain. Anders lässt sich die widerstandslose Selbstverleugnung nicht erklären. Aber: Genau so vegetiert unsere Gesellschaft.
Weit ‚erbaulicher‘ ist da Roberto Bolaños Prosalyrik aus Zeiten, in denen „Die romantischen Hunde“ [Hanser] noch auf Freiheit und Gerechtigkeit hofften, für sie kämpften, sie verzweifelt, wütend, gegen alle Repressalien zu leben versuchten. Und davon warteten auf humanistische Freidenker im Lateinamerika der Diktaturen nicht wenige. Natürlich können diese Wechselbäder auch ganz schön runterziehen, aber man spürt immer den kräftigen Herzschlag des poetischen Boxers, der sich nicht nur mit melancholischen Jabs durch den Ring tastet, sondern immer wieder unverblümte Geraden abfeuert.
Geraden, für die Philippe Djian immer wieder gefeiert wurde und die auch ‚auf seine alten Tage‘ nichts an ihrer durchschlagenden Wirkung eingebüßt haben. Im Gegenteil. Heuer legt er sich seine ‚Gegner‘ gekonnt zurecht, um sie ganz gezielt auf die Bretter zu schicken. Da liegt sie nun, die einstige Bohème aus sozialen Widerstandskämpfern und rebellischen Künstlern. Nicht mehr viel übrig von ihren Idealen. „Wie die wilden Tiere“ [Diogenes] sind sie in ihrer Egozentrik irgendwann nur noch ihren Trieben gefolgt. Alk, Drogen, Sex. Und jetzt wundern sie sich, dass ihnen ihre Kinder das Leben zur Hölle machen beziehungsweise sich am Partybuffet die Kugel in den Kopf jagen.
Im Grunde hat da Jocelyne Sauciers Alt-Herren-Combo alles richtig gemacht. Gezeichnet von der Vergangenheit haben sich die drei unverwüstlichen Greise ausgeklinkt, abgeschlossen, sich zurückgezogen in die Natur, getroffen in der Wildnis, um ihr Recht auf Selbstbestimmung auszuleben, der Zivilisation ein Schnippchen zu schlagen; für „Ein Leben mehr“ [Insel]. Doch die lässt sich nicht abschütteln, so lange noch der dünnste Faden zu ihr zurückführt. Wie eine Spinne lauert sie in der Mitte des Netzes, registriert jede Vibration, um ihre entkräfteten Opfer bei lebendigem Leib einzuwickeln und auszusaugen. Dann schon lieber der Freitod … oder in Liebe vergehen.
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