Eigentlich könnte man einen vollkommen ereignislosen Roman erwarten, wenn man Jhumpa Lahiris „Wo ich mich finde“ in die Hand nimmt: Eine italienische Einzelgängerin, der man auf ihren gewohnten Alltagswegen zwischen Buchhandlung, Universität, Piazza, Schreibwarenhandlung und Schwimmbad folgt. Sie hat ihre Routinen, sogar ihre ungeplanten Begegnungen mit den immer gleichen Personen scheinen kaum etwas Spontanes zu haben. Ihr kleines Universum ist überschaubar, ja schon fast beengt. Und viel ereignet sich darüber hinaus auch nicht wirklich, gibt aber die Möglichkeit tief in den Geist der Protagonistin einzutauchen, der vor allem von Einsamkeit bestimmt ist: „Das Einzelgängertum ist mein Metier geworden. Es ist eine eigene Disziplin. Ich versuche, mich in ihr zu perfektionieren, und doch leide ich darunter.“
Vielleicht entstehen genau aus diesem Leid die tiefgehenden Beobachtungen, die so unfassbar mitreißend an dem Roman sind. Ihr Blick auf Details in ihren Routinen, imaginierten Geschichten rund um ihr fremde Personen, die sie nur anhand derer Bewegungen spinnt und einzelne melancholische Gedanken zum Leben machen aus dem kurzweiligen Roman ein durchdringendes Miterleben. Der starke Umgang mit Worten schafft in den simpelsten Situationen intensive Gefühle – manchmal reicht da schon ein Teilsatz aus – und eigentlich eher langweilige Alltagssituationen nehmen einen traumhaften Charakter an. Kleinigkeiten werden zelebriert, vielleicht, weil sie die einzigen Dinge sind, die die Protagonistin hat. Ein trauriger Gedanke, der beim Lesen der Lektüre beständig bleibt.
„Wo ich mich finde“ ist der erste auf Italienisch verfasste Roman der Pulitzer-Preisträgerin. Dabei handelt es sich um eine Sprache, die sie erst im Erwachsenenalter gelernt hat, aber sich in diese verliebte – wie sie in ihrem Werk „Mit anderen Worten“ beschreibt. Lahiri wuchs als Tochter bengalischer Eltern in Rhode Island auf. Die Suche nach Sprache führte sie zum Italienischen – nach Bengali, das sie nie schreiben lernte, und Englisch, in dem sie sich nie wirklich wohlfühlte. Der Romantitel lässt sich also nicht nur in Bezug auf die Protagonistin, sondern auch in gewisser Weise auf die Autorin verstehen, die sich in einer Sprache findet, die sie spät erlernte. Und gerade diese wird zu einer absoluten Stärke des Werks.
Jhumpa Lahiri: Wo ich mich finde | Aus dem Ital. v. Margit Knapp | 160 S. | 20 €
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