Er verwandelte das Abendmahl in einen „humanistischen Debattierclub“. Christliche Erzählungen interessierten ihn immer dann, wenn sie von menschlichen Eigenschaften und vor allem von selbständigem Denken getragen wurden. Allerorten gedenkt man derzeit Leonardo da Vincis 500. Todestag. Mit der Journalistin und Kunsthistorikerin Kia Vahland hat er nun eine Biografin gefunden, die ihn als Künstler beschreibt, dessen Weltbild einen perfekten Dialog zu unserer Gegenwart bietet. Zunächst spricht ihn Vahland von den Fantasien des Maschinenzeitalters frei, das in Leonardo einen visionären Konstrukteur von Kriegsmaschinen sah. Eine Vorstellung, die sie als falsche aber hartnäckige Mythenbildung betrachtet, deren Ursprung in Benito Mussolinis Versuchen besteht, Leonardo für den grotesken Männlichkeitskult der faschistischen Ästhetik zu reklamieren. Es geht der Kunstkritikerin der Süddeutschen Zeitung hingegen darum, den Fokus auf „Leonardo da Vinci und die Frauen“ zu richten. So lautet der Titel ihrer Biographie, in der man meisterhaft vorgeführt bekommt, wie faszinierend Kunstgeschichte betrieben werden kann, wenn sie Wissen mit Erzähltalent verbindet.
Mit zwei zentralen Thesen rückt Kia Vahland Leonardo ins Zentrum der Geschichte der Abendländischen Malerei. Zunächst macht er die Frauen „sichtbar“, indem er sie aus der sittsam-konventionellen Darstellung im Profil befreite. Die von ihm porträtierten Frauen schauen uns frontal an, sie sind keine Dekoration und keine hübschen Ideenträgerinnen. Vielmehr offenbaren sie uns ihre Schönheit ohne ihr Innerstes deshalb preiszugeben. Dass sie eine eigene Gedankenwelt besitzen, daran zweifelt niemand, der ein weibliches Porträt aus Leonardos Hand vor sich hat. Für ihn zählte nicht das Geld, sondern allein das Interesse, das ihn an die Persönlichkeit einer Frau fesselte. Die von ihm Porträtierten gehören denn auch nicht zu den mächtigsten Frauen der Renaissance, sondern zeichnen sich durch eigenwillige Intelligenz aus. Seine Ablehnung gegenüber den Werbungsversuchen der einflussreichen Isabella d‘Este, die über Jahrzehnte hinweg nichts unversucht ließ, um Leonardo für ein Porträt zu gewinnen, ist für Kia Vahland ein Indiz dafür, dass Leonardo die Malerei vom Zwang der Auftragsarbeit löste. Als oberstes Primat galt es nun die Inspiration des Künstlers anzuerkennen, der selbst entschied, wie sich ein Bild zu entwickeln hatte und nicht mehr dem Willen der Besteller unterlag.
Kapitel für Kapitel bekommen wir neben den sinnlich poetischen Bildbeschreibungen auch die Geschichten der Frauen von Kia Vahland geliefert. Sie entfaltet die Lebensstationen Leonardos und bietet uns ein breites und zugleich detailreiches Panorama der Renaissance. Wie sah die Lebensrealität der Kinder und der Frauen aus, die im Grunde rechtlos waren? Wie ging es in einer Malerwerkstatt zu, wie kleideten sich Bürger und Fürsten? Den religiösen Einfluss auf die künstlerischen Darstellungen der Renaissance nimmt Vahland eher weniger in den Blick. Ist man am Ende dieses prachtvollen Textes angekommen, kann man nicht nur auf eine Reise durch Leonardos Werk, sondern auch durch seine Zeit zurückschauen, die sich wie wir heute an den Fragen der Macht und der Gleichberechtigung abarbeitete.
Kia Vahland: Leonardo da Vinci und die Frauen | Insel Verlag | 350 S. | 26 €
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Archiv des Verschwundenen
Piuk und Schneider lesen in Köln
Schrecklich komisch
Tove Ditlevsens Roman „Vilhelms Zimmer“ – Textwelten 02/25
Wem gehört Anne Frank?
„Immer wenn ich dieses Lied höre“ von Lola Lafon – Literatur 02/25
Um die Wette dichten
Best of Poetry Slam am Comedia Theater
Unsichtbare Krankheiten
„Gibt es Pflaster für die Seele?“ von Dagmar Geisler – Vorlesung 01/25
Mit KI aus der Zwangslage
„Täuschend echt“ von Charles Lewinsky – Literatur 01/25
Doppelte Enthüllung
„Sputnik“ von Nikita Afanasjew – Literatur 12/24
Eine wahre Liebesgeschichte
Thomas Strässles „Fluchtnovelle“ – Textwelten 12/24
Übergänge leicht gemacht
„Tschüss und Kuss“ von Barbara Weber-Eisenmann – Vorlesung 11/24
Die zärtlichen Geister
„Wir Gespenster“ von Michael Kumpfmüller – Textwelten 11/24
Zurück zum Ursprung
„Indigene Menschen aus Nordamerika erzählen“ von Eldon Yellowhorn und Kathy Lowinger – Vorlesung 10/24
Eine Puppe auf Weltreise
„Post von Püppi – Eine Begegnung mit Franz Kafka“ von Bernadette Watts – Vorlesung 10/24
Aufwändige Abschlüsse
Comics, die spannend Geschichten zu Ende bringen – ComicKultur 02/25
Gespräch über die Liebe
„In einem Zug“ von Daniel Glattauer – Textwelten 01/25
Massenhaft Meisterschaft
Neue Comics von alten Hasen – ComicKultur 01/25
Kampf den weißen Blättern
Zwischen (Auto-)Biografie und Zeitgeschichte – ComicKultur 12/24
ABC-Architektur
„Buchstabenhausen“ von Jonas Tjäder und Maja Knochenhauer – Vorlesung 11/24
Auch Frauen können Helden sein
„Die Frauen jenseits des Flusses“ von Kristin Hannah – Literatur 11/24