Als Rapper und DJ gehört Kurt Tallert unter dem Namen „Retrogott“ zu den innovativsten Künstlern der deutschen Hip Hop-Szene. Jetzt debütiert er als Autor mit dem Buch „Spur und Abweg“, das ihn als erstaunlich kompletten Erzähler präsentiert. Der heute 37-jährige Tallert verlor seinen Vater – der ein Holocaust-Überlebender war – mit 12 Jahren. Die Vergangenheit ist zwar Thema in der Familie gewesen, aber konsequent nachgefragt wurde erst, als Tallert im Schreibtisch des verstorbenen Vaters Briefe und Notizen von ihm findet. Tallerts Vater, der für die SPD als Abgeordneter im Bundestag saß, war zum Teil jüdischer Abstammung. Aber was heißt das? Unter den Menschen gibt es keine Rassen und gläubig war man in der Familie nicht. Treffend zieht sich der Begriff des Absurden durch Tallerts Erinnerungen an den Vater und an die eigene Kindheit in Bad Honnef.
Damit legt er einen Nerv frei, denn dieses Buch setzt nicht eigentlich zu einer Familiengeschichte an. Der Vater konnte die Erlebnisse im Lager nicht vergessen, aber die Erinnerungen füllten nur lose Blätter. Kurt Tallert setzt diese Scherben zu einem faszinierenden Buch zusammen, indem er das Vergangene mit der Gegenwart in einen reflektierenden Dialog bringt. Da gibt es etwa die Tankstelle auf dem Grundstück der ehemaligen Synagoge von Bad Honnef. 1938 war das Gotteshaus unter den Augen des Oberbürgermeisters und der Feuerwehr in Brand gesteckt worden. Oder das Haus in der Straße der Tallerts, in das die jüdische Bevölkerung von Bad Honnef vor der Deportation eingesperrt worden war. Das alles ist uns plötzlich ganz nah. Damals sagte man, nein, nicht „Remigration“, sondern „Umsiedlung“.
Mit seinen langen, behutsam formulierten Sätzen entwickelt Kurt Tallert eine Art eleganten Essay, der in einem Ton leicht bitterer Ironie gehalten ist. Immer wieder stellt sich die Frage, wie der Vater den Antisemitismus der Nachkriegsgesellschaft ausgehalten hat. Die Nazis wurden ja nicht mit dem 8. Mai 1945 vom Erdboden verschluckt. Tallerts Buch erschöpft sich aber nicht in der Wiederholung bekannter Wahrheiten. Es enthält vielmehr mit seinem konsequent subjektiven Blick eine inspirierende Frische, die uns die Gegenwart noch präziser wahrnehmen lässt.
Kurt Tallert: Spur und Abweg | dumont Buchverlag | 240 Seiten | 24 €
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