Wenn du als Gitarrist deinen Verstärker voll aufdrehst, Regler auf 10, dann bist du laut, möglicherweise verdammt laut. Ja, das ist Rock and Roll! Aber was kommt dann? Die Antwort gab die Rock-Satire „This is Spinal Tap“: Der Gitarrist der Band ließ sich Verstärker anfertigen, deren Regler bis 11 gehen. Denn 11 ist lauter als 10, ist doch klar! Was Spinal Tap da bereits 1984 aufs Korn nahmen, war ein realer Konkurrenzkampf: Deep Purple, Led Zeppelin, Manowar, Motörhead, AC/DC – sie alle wettballerten um den Titel der lautesten Band der Welt. Ein Konzert der Foo Fighters wurde sogar von einer Erdbebenmesswarte registriert.
Mittlerweile hat die Rekorde-Kommission den Posten aus dem Guinness-Buch gestrichen. Der Grund ist derselbe, aus dem es auch keinen Rekord im Pulsadernaufschneiden gibt: Es ist gesundheitsschädlich. Pete Townshend hat seine Teilnahme an diesem Wettlärmen mit Gehörschäden bezahlt und sogar die Stiftung „H.E.A.R.“ mitgegründet. Die „Hearing Education and Awareness for Rockers“ setzt sich dafür ein, Musiker und Fans (nicht nur der Rockmusik) darüber aufzuklären, was ihr Hobby und ihre Leidenschaft mit ihrem Gehör anstellen können. Den meisten Leuten ist dies egal.
Helene Fischer vs. Stahlpresse
Dem Gehörgang dagegen ist es egal, ob ein Presslufthammer, Rammstein oder EDM-DJ Calvin Harris in ihn eindringen. Lautstärke ist ihm Lautstärke. Unser Gehirn ist da differenzierter: Es unterscheidet sehr wohl zwischen euphorisierendem Schalldruck (landläufig auch Musik genannt) und Lärm. Mein Vater etwa konnte den ganzen Tag an Häckselmaschine, Rasenmäher und Bohrmaschine rummachen, aber wenn ich als Jugendlicher meine Anlage aufgedreht habe, dann sollte ich doch bitte den Lärm ausmachen.
Um es deutlich zu machen: Gehörschäden können genauso durch Techno wie durch Rock oder Baumaschinen entstehen. Da kommt es auf die Dauer und Lautstärke an. Interessant wird es aber dann, wenn die Bewertung der Geräusche sich auf Psyche und Physis auswirkt. Stress ist zum Teil eine Entscheidung, oft eine unbewusste. Fünf Minuten Helene Fischer sind für manche Menschen belastender als zwei Stunden ohne Gehörschutz neben der Stahlpresse.
Heavy-Metal-Oase
„Gegen Fluglärm protestieren ja meist nicht jene, die ohnehin schon an einer lauten Straße wohnen müssen, sondern eher die Besitzer eines Häuschens im Grünen, wo es vergleichsweise still ist. Dem einen drohen tatsächlich gesundheitliche Schäden – es klagt aber der andere, der sich in seiner privaten Ruhe gestört fühlt“, sagte Psychoakustikerin Brigitte Schulte-Fortkamp 2015 der „Geo“. Eine Untersuchung, die in Wuppertal durchgeführt wurde, hat ergeben, dass Straßenlärm Kinder in ihrer Entwicklung beeinträchtigt. Eine Reduktion des Lärms um 2 dB(A) hätte ihr zufolge denselben Effekt auf die Schulreife wie ein zusätzlicher Monat im Kindergarten. (Studien zur Auswirkung von lauten Konzerten auf die Psyche stehen noch aus.)
Also ab in die Stille flüchten? Es dem Schriftsteller Henry David Thoreau gleichtun und sich eine Hütte im Wald bauen? Ich selbst habe ein halbes Jahr in einem französischen Château, einem Schloss, gewohnt. In drei Himmelsrichtungen gab es nur Schlosshof, Feld und Wald, in der vierten ebenfalls Wald und dahinter bloß ein Dorf mit einer einzigen Ampel. Die nächste Stadt? Kilometer entfernt. Das Schloss diente als Hotel, doch es war Nichtsaison. Es vergingen Tage, ohne, dass eine Menschenseele zu sehen war. Eine Oase der Stille. Ein Quell der Ruhe. Ein Hort der Ungestörtheit. Wie habe ich das genossen? Ich bin in den Großen Saal und habe laut Heavy Metal aufgedreht.
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