Wenn es heutzutage in Zeitungen oder TV-Sendung heißt: „Die Digitalisierung verändert die Arbeitswelt“, dann sollten bei Lesern und Zuschauern die Ideologie-Verdacht-Warnleuchten angehen. „Die Digitalisierung“ übernimmt in Zeitungsartikeln, Hochglanzbroschüren, auf Wahlplakaten aber auch zunehmend in wissenschaftlichen Studien — die es eigentlich besser wissen müssten — die Funktion eines Scheinsubjekts. Das klassische Beispiel für ein Scheinsubjekt ist das „es“ in: Es regnet.
Als Scheinsubjekt (lat. Expletivum, das Ausfüllende) simuliert „die Digitalisierung“ die Kraft einer schicksalhaften Naturgewalt, die keine Treiber (Profiteure) und keine Getriebenen (Ausgebeutete) mehr kennt, sondern nur noch Betroffene. In dieser Lage müssen „wir“ uns dann auf „Neues“ einstellen, „flexibel sein“, „uns“ den Umständen anpassen — ob wir wollen oder nicht.
Eine solche Sichtweise ist aber, gelinde gesagt, ideologischer Bullshit! Denn die Digitalisierung ist nichts anderes als eine Modernisierung der Produktion in Konzernen und Unternehmen für mehr Profit. Und in solche Prozesse kann eingegriffen werden. Sie sind menschengemacht.
Digitaler Technik fällt in der skizzierten Umwälzung eine ambivalente Rolle zu. Zum einen wird sie, wie bei Amazon, zur sekundengenauen Taktung und umfassenden Kontrolle der Beschäftigten in den Warenlagern und Versandzentren genutzt. Doch wie bei der Akkordarbeit am Fließband in der klassischen Industrie begegnen sich die Arbeiter noch, können sich austauschen, Interessen formulieren und Arbeitskämpfe organisieren. Gleiches gilt auch für Kurierfahrer, wie beispielsweise die Rider beim Flash-Supermarkt Gorillas, die seit vergangenem Jahr immer wieder mit wilden Streiks Schlagzeilen gemacht haben. Pro forma Einzelkämpfer, die per Smartphone ihre Lieferaufträge erhalten, begegnen sie sich an den Warenlagern, wo sie in den Austausch von Erfahrungen treten können. Und das ist der ersten Schritt zur Formulierung gemeinsamer Interessen, wie Dienst-Fahrräder und -Handys, winterfeste Kleidung, unbefristete Arbeitsverträge, bessere Bezahlung. In Form von Messenger-Diensten kann digitale Technik sogar bei der Koordination von Arbeitskampfmaßnahmen nützlich sein.
Nicht „die Digitalisierung“, sondern die durch digitale Technik herbeigeführte Vereinzelung — etwas das mit der Ausweitung des Home-Office im Zuge der Corona-Pandemie auch auf ganz „normale“ Büroangestellte in vielen Branchen zukommen könnte — ist das eigentliche Problem. Besonders krass zeigt sich das bei Plattformen, wie z.B. helpling.de. Menschen, die sich dort als Putzkraft oder Haushaltshilfe verdingen, haben keine gemeinsamen Treffpunkte. Austausch und Zusammenschluss sind geradezu ausgeschlossen. Verkompliziert wird die Sache dadurch, dass sich solche Plattformen nicht als Arbeitgeber, sondern lediglich als Vermittler, als Schwarzes Brett für Dienstleister sehen. Dabei könnte durchaus kritisch hinterfragt werden, ob das der Rolle solcher Apps, mit ihrer marktregulierenden Form und der starken Abhängigkeit, in der sich die Arbeitskräfte befinden, gerecht wird. Aber der ungeklärte Arbeitnehmerstatus der Menschen macht die Anwendung des Arbeitsrechts schwierig.
Nicht „die Digitalisierung“ ist das Problem, sondern die durch digitale Technik — vor allem im sogenannten Dienstleistungsbereich — um sich greifende Vereinzelung und Vereinsamung von Menschen, die nur kollektiv etwas erreichen können. Solidarität braucht Begegnung. Und bislang sind digitale Räume für kollektive Prozesse, eher schwierig zu erobern
MIT ALLEN SINNEN - Aktiv im Thema
presserat.de | Der Deutsche Presserat, als freiwillige Selbstkontrolle der Printmedien und ihrer Online-Auftritte, prüft anlässlich Beschwerden, ob im Journalismus ethische Regeln befolgt werden.
dpa.com/de/unternehmen/faktencheck | Die größte Nachrichtenagentur Deutschlands erläutert den eigenen Umgang mit Faktenchecks.
fv-medienabhaengigkeit.de | Der Fachverband Medienabhängigkeit setzt sich dafür ein, Medienabhängigkeit als „eigenständiges Störungsbild“ anzuerkennen.
Fragen der Zeit: Wie wollen wir leben?
Schreiben Sie uns unter meinung@choices.de
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Auf Entzug
Intro – Mit allen Sinnen
Wer schreit, hört nichts mehr
Medienverantwortung und Kommunikationsrausch – Teil 1: Leitartikel
„Wir müssen Medienkompetenz als Kernkompetenz entwickeln“
Medienexpertin Anna Litvinenko über den Umgang mit der Informationsflut – Teil 1: Interview
Vergessene Nachrichten
Die Initiative Nachrichtenaufklärung in Köln – Teil 1: Lokale Initiativen
„Neue Klassenkonflikte“
Soziologe Simon Schaupp über Digitalisierung und Arbeiterinteressen – Teil 2: Interview
Kein Arbeitskampf ohne Körper
Das Fritz-Hüser-Institut in Dortmund erforscht Literatur der Arbeitswelt – Teil 2: Lokale Initiativen
Laut oder aus!
Lärm ist subjektiv – und objektiv schädlich – Teil 3: Leitartikel
„Ein eindeutig gesundheitsgefährdendes Potenzial“
Ingenieur Christian Popp über Umgebungslärm und Defizite im Lärmschutzrecht – Teil 3: Interview
Durch Drängen zum Flüsterton
Die Bürgertaskforce A 46 bündelt den Einsatz für Lärmschutz in Wuppertal – Teil 3: Lokale Initiativen
Der stille Kampf gegen den Lärm
Die Niederlande bauen seit Jahrzehnten Maßnahmen gegen Lärmbelastung aus – Europa-Vorbild: Niederlande
Statische Unruhe
Digital verseucht – Glosse
Rassismus kostet Wohlstand
Teil 1: Leitartikel – Die Bundesrepublik braucht mehr statt weniger Zuwanderung
Schulenbremse
Teil 2: Leitartikel – Was die Krise des Bildungssystems mit Migration zu tun hat
Zum Schlafen und Essen verdammt
Teil 3: Leitartikel – Deutschlands restriktiver Umgang mit ausländischen Arbeitskräften schadet dem Land
Aus Alt mach Neu
Teil 1: Leitartikel – (Pop-)Kultur als Spiel mit Vergangenheit und Gegenwart
Nostalgie ist kein Zukunftskonzept
Teil 2: Leitartikel – Die Politik Ludwig Erhards taugt nicht, um gegenwärtige Krisen zu bewältigen
Glücklich erinnert
Teil 3: Leitartikel – Wir brauchen Erinnerungen, um gut zu leben und gut zusammenzuleben
Es sind bloß Spiele
Teil 1: Leitartikel – Videospiele können überwältigen. Wir sind ihnen aber nicht ausgeliefert.
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf