„Man schlittert hinein“, sagt Martin Walser über den Beruf, der ihn berühmt gemacht hat. „Aus einem Leser wird man ein Schreiber. Mehr ist nicht der Fall.“ Auch Denis Scheck ist irgendwie in etwas hineingeschlittert, ist der Literaturkritiker doch quasi der offizielle Beglückwünscher und Ehrerbietungs-Vollstrecker zu Walsers 90. Geburtstag geworden. Er führte Gespräche und drehte Fernsehbeiträge, vor allem Frank Hertwecks einmalige 90-minütige SWR-Fernsehdoku „Mein Diesseits“, die ein Jahr lang in der ARD-Mediathek abrufbar ist. Der smarte Literaturvermittler klapperte mit dem überraschend kooperativen Lebens-Beobachter Walser mehrere Tage lang biografisch wichtige Orte am Bodensee ab und schnitt dabei viele Themen an.
So ein verbindendes Erlebnis wirkt auch am 27. März im Kölner Comedia Theater noch nach, wo Scheck und Walser in einer Veranstaltung des Literaturhauses mit Unterstützung der Deutschen Bank drei Tage nach dem eigentlichen Geburtstag an die Fernsehgespräche anknüpften. Aber ein eingespieltes Team sind die zwei an diesem Abend im ausverkauften Roten Saal zum Glück nicht – dafür sorgen beide bewusst oder unbewusst von selbst. Sie haben sich trotz all der Zusammenarbeit die Distanz zum Frage-und-Antwort-Spiel erhalten, und es gibt kein Gespräch mit Walser ohne ein plötzlich ratloses Stocken und Einwände gegen eine Wortwahl (niemals: „Sex“). Zwar schienen am Anfang und am Ende ein paar der nie unüberlegten Fragen etwas nebensächlich für so ein bedeutendes Jubiläum: Scheck weiß alles Wichtige schon und sucht als Fernsehmoderator auch immer mal das Amüsante und Leichte. Doch gab es mehr als genug Interessantes zum Mitnehmen und eine mit 45 Minuten und 14 Kapiteln eigentlich zu lange, aber vor allem starke Lesung aus dem neuen Roman „Statt etwas oder Der letzte Rank“, mit dessen Erzähler Walser eins wurde und dessen hohe Erfordernisse an den Ausdruck ihn am Pult schließlich auch etwas ins Schwitzen brachten.
Man könnte ihn sonst als altersmüde einschätzen. In seinen Büchern deuten zwar manche Themen und Erfahrungen auf ein gewisses Alter, aber von einem Nachlassen an Intensität kann keine Rede sein. Vielmehr wirft er manchen konventionellen Ballast ab und dringt mit immer weniger bürgerlichen Rücksichten zum Wesentlichen und Eigentlichen durch. Um ihn herum sehe er ohnehin einen „in den Medien gepflegten Altersrassismus“, sagt er. Manche verstünden offenbar nicht, warum er noch schreibe, aber die Bücher, die er jetzt schreibe, habe er nicht vor zwanzig Jahren schreiben können.
Walser der Leser, der zum Schreiber wird, lässt sich bekanntlich bis auf seine Begeisterung für Karl May zurückverfolgen. Nun habe er, vor zwei Jahren, „Winnetou II“ noch einmal ganz gelesen und erstmals gemerkt, dass es sich um „politische Literatur“ handle. „Winnetou – wissen Sie das? – das ist nicht bloß der mit den schönen Haaren, Pferd und so, sondern der hat Waffen besorgt für den mexikanischen Präsidenten. Der war Waffenhändler.“ Seine Handlungen seien immer politisch gewesen. „Wenn der so Kerle durchs Fenster hinausgeworfen hat, dann waren das nicht irgendwelche Rohbolde, sondern das waren politisch definierte Figuren.“
In der gemeinsamen Doku hatte Walser seine Aufgabe darin gesehen, „etwas schöner zu machen, als es ist“, und blieb dabei an diesem Abend. Aus Erfahrung sage er: „Ich schreibe etwas, so schön wie es nicht ist. Ich bin nicht mehr fähig, die Welt zu erklären, sondern nur zu verklären. Das ist jetzt keine Resignation – das habe ich auch mit der Religion gemeinsam. Gut, ich bin ja ein Leben lang auch in diesem Dienst der ‚Welterklärung‘ [gewesen].“ Scheck verwies dazu auf den ebenfalls gerade erschienen Sammelband „Ewig aktuell – Aus gegebenem Anlass“ mit Äußerungen, Aufsätzen und Reden aus einem halben Jahrhundert. Walser: „Genau, da sind sie alle drin, diese Versuche, in der Welterklärung Dienst zu tun.“ Die Welt sei aber „nicht erträglich, wenn sie nicht verklärt wird“, ob nun durch die Religion oder Schriftsteller.
Im neuen Roman, von dem Scheck Walser sagt, er sei Kafka und Nietzsche nie nähergewesen, haben wir es im 38. Kapitel Schwarz auf Weiß: „Jeden Morgen die Enttäuschung: Wie unbedeutend ist die Tageswirklichkeit, verglichen mit dem, was ich geträumt habe.“ – „Statt etwas oder Der letzte Rank“ reiht sich ein wenig in die Tradition seiner (gerade in einem Band zusammengefassten) Meßmer-Bücher ein. Es gibt 52 Kapitel ohne durchlaufende Handlung, stattdessen rote Fäden in bekenntnishaften Aufzeichnungen, Anwandlungen und Erfahrungsresümees. Sie stehen in einer klaren, wenn auch anonymen auktorialen Kontinuität und nähern sich formell Prosagedichten an. Sein „Versteckspiel“ mit dem Publikum geht weiter: Immer wenn man denkt, man lese wiedererkennbare Autobiografie, bricht Traumlogik herein, wird etwas romanhaft Konkretes angedeutet oder ein längeres Kapitel erhält eine literarische Geschlossenheit. Das Nicht-Herauskönnen aus sich selbst, starke Gefühle und das Leiden unter den eigenen menschlichen Unvollkommenheiten prägen über die Empfindsamkeit des Erzählers dessen Verhältnis zur Welt. Was anfangs ein sonderbares Buch mit „schönen Stellen“ und vielen gedanklichen Brüchen und Sprüngen ist, rundet sich nach und nach ab und wird eine Einheit. So geht Roman also auch. Auch in der Comedia kam Walser beim Vortragen der späteren Kapitel erst so richtig in Fahrt.
Wer in dem Buch spricht, ist nicht Martin Walser, aber ihm doch nicht allzu fremd. Das alemannische Wort „Rank“ sei auch „ein Sprachgeständnis wo das Ganze herkommt“, sagt Walser. „Bei uns sagt man halt: ‚Du kriegst den Rank nicht mehr.‘ Das ist ja oft genug in der deutschen Sprache passiert, dass die sogenannte hochdeutsche Sprache einen Mundartausdruck gelöscht hat mit einem hochdeutschen Ersatz, den ich nicht in jedem Fall eingesehen habe. Für euch ist das: Kurve. Kurve – schrecklich. Rank! Ich krieg den Rank nicht mehr.“
Die Entstehung des von Scheck in seiner Form als „radikal“ bezeichneten Buches stellt er als alles andere als einen großen Willensakt dar. „Wie Sie auch schon wissen, ich mache ja nichts freiwillig. Und nach dem letzten Buch habe ich halt die rechte Hand das schreiben lassen, habe ich zugeschaut. Ich habe ja auch gesehen, dass sie jetzt etwas schreibt, was man unter belletristischen Begebenheiten für riskant halten kann. Aber ich hatte keine Wahl. Ich musste das dann einfach so hinschreiben. Und während ich schreibe, weiß ich ja immer noch nicht – selbst bei einem Roman – wo es hingeht, wie es aufhören soll. Ich lerne es kennen nur dadurch, dass ich es schreibe. Ich müsste den Roman ja nicht schreiben, wenn ich schon wüsste, ohne dass ich ihn schriebe, wie er aufhört.“ Eine Leserin habe sich schon beschwert, dass sie nicht erfahre, wie der Erzähler aussehe. Walser habe sich „dem Wesentlichen zugewendet. Keine Roman-Umständlichkeit mehr, nicht mehr: der ging dann und dann aus‘m Haus und über die Straße und drüben hat ihn die Baronin Sowieso erwartet und die hatte ein gelbes Kleid an und er hatte eine schiefe Krawatte und so weiter.“
Beim Vergleich mit Paul Valéry räumte Walser ein: „Dass ich nicht der Erste bin, der so was versucht, ist mir schon klar. Aber das war trotzdem erstaunlich, und das muss ich jetzt sagen: Ich durfte angenehm überrascht sein, dass ein so umstandsloses Buch dann öffentlich hauptsächlich, wenn auch nicht total, verstanden wurde. So ein Buch kommt auf die Bestsellerliste! Das Gegenteil von einem Kriminalroman.“
Dass Walser sich übrigens als Krimiautor nicht eignet, wurde kurz darauf noch deutlich, als er feststellte: „Ich kann keine negativen Figuren erzählen. Ich will alle Figuren verständlich machen, und dann sind sie nicht mehr, Entschuldigung: zu verurteilen. Das ist keine Absicht; das kann ich nachträglich feststellen. Bei mir geht es immer gut aus.“ Scheck stimmte zu, dass „am Ende“ doch immer sympathische Figuren aus allen würden. Walser: „Ich kann mich nicht ein Jahr lang oder mehr mit einer Figur beschäftigen, ohne sie, Entschuldigung, zu lieben.“ Zu einer Zeit, als selbst konservative Kritiker von einem Schriftsteller Gesellschaftskritik erwartet hätten, sei daher etwa sein Roman „Halbzeit“ (1960) als „affirmativ“ empfunden worden. Auch „Tod eines Kritikers“ (2002) sei für ihn ein gutes Beispiel dafür, dass er „nur rühmen, nicht verurteilen“ könne. Den damaligen Vorwurf des Antisemitismus empfinde er, wie er schon bei anderen Interviews sagte, umso mehr als „grotesk“. „Ich liebe den, mit dem ich auf dem Papier zu tun habe.“
„Wie wichtig war für Sie als Schriftsteller Geliebtwerden?“, will Denis Scheck wissen. „Ich kenne niemand, der nicht geliebt werden will“, antwortet Walser. „Und alles tut, um geliebt zu werden. Die Haupttätigkeit eines jeden Menschen ist: geliebt werden, geliebt werden, geliebt werden – gegen alles, was dagegen spricht, geliebt werden. Wenn wir nicht geliebt werden, dann sind wir nicht! Wir sind immer nur so sehr, wie wir geliebt werden. Und dafür tun wir, ich sag jetzt: mehr als nötig ist.“
Martin Walser: Statt etwas oder Der letzte Rank | Rowohlt | 172 S. | 16,95 €
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