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Wolfgang Ullrich
Foto(Ausschnitt): Neven Allgeier

„Meine Freiheit als Rezipient wird vergrößert“

30. Januar 2024

Teil 1: Interview – Kunsthistoriker Wolfgang Ullrich über Triggerwarnungen in Kunst und Kultur

choices: Herr Ullrich, Warnungen vor Medieninhalten gibt es schon lange, man denke an die „Parental Advisory“-Aufkleber. Wie werden sie heute wahrgenommen?

Wolfgang Ullrich: Das ist ja ein Phänomen aus den 90ern, bei dem es primär um den Schutz von Jugendlichen vor Pornographie oder Drogenverharmlosung ging – vor Inhalten, die auf bestimmte Art beeinflussend oder enthemmend wirken könnten. Das wiederum hat eine viel längere Tradition, das gab es zu allen Zeiten und in allen Kulturen: die Sorge, dass gewisse Bilder oder auch Formen von Musik so stark wirken, dass man sich dieser Wirkung nicht erwehren kann und einen Kontrollverlust erleidet. Davor wollte man sich und andere stets schützen. Zum Beispiel gab es in früheren Jahrhunderten Konventionen, dass man Bilder mit besonders grausamen oder erotischen Darstellungen mit Vorhängen verhängt und nur in bestimmten Situationen gezeigt hat. Da war der Vorhang eine Art von Vorwarnung – oder eben eine „Triggerwarnung“, dass sich dahinter etwas „Krasses“ verbirgt, man also vorbereitet sein, sich schützen, auf Distanz gehen soll. In dieser Tradition sehe ich auch heutige Triggerwarnungen. Es ist eben ein neuer Versuch, Menschen vor etwas zu warnen, das ihren Emotionshaushalt durcheinanderbringen könnte. In diesem historischen Kontext betrachtet sind sie für mich nichts spektakulär Neues. Was neu ist gegenüber den 90er Jahren oder überhaupt gegenüber dem 20. Jahrhundert, ist, dass Triggerwarnungen sich auf mehr Bereiche beziehen. Vor allem Gewaltdarstellungen, aber auch andere Formen von Extremsituationen, denen Menschen ausgesetzt sind, werden nun ebenfalls für warnenswert gehalten. So können auch sie, ähnlich wie pornographische Bilder, sehr stark auf Menschen wirken. Deshalb ist es eigentlich naheliegend, dass man darauf Rücksicht nimmt und sich überlegt, wie man Menschen vor den Folgen, die solche Bilder vielleicht haben, schützen kann. Es gab in der zweiten Phase des 20. Jahrhunderts eine Phase, in der es besonders freizügig zuging und man historisch gewachsene Schutzmechanismen weitgehend abgeschafft hat. Vielleicht hat man mittlerweile gesehen, dass man darin zu weit gegangen ist, oder dass die Bedürfnisse sich wieder geändert haben. Mit den heutigen Triggerwarnungen kehrt man jedenfalls wieder ungefähr zu den Zuständen zurück, die die längste Zeit der Geschichte ebenfalls schon gegolten haben. 

„Die Trauma- und Posttrauma-Forschung hat sich weiterentwickelt“ 

„Parental Advisory“-Aufkleber galten bei Jugendlichen durchaus als Statussymbol …

Das ist heute auch so, ja man sieht, dass Triggerwarnungen zum Teil zu anderen Zwecken eingesetzt werden. Wenn Sie sich etwa Bücher aus dem sogenannten BookTok-Bereich anschauen, die vor allem auf und durch TikTok boomen, dann sehen Sie gleich auf den ersten Seiten, bevor der Text losgeht, einerseits einen QR-Code, der zu einer Playlist führt, die man beim Lesen hören soll, andererseits aber eine Seite mit Triggerwarnungen – da steht dann meist was von Sex oder von besonderem Grusel. Das aber soll die Leute eher neugierig machen, ja animieren, das Buch zu kaufen, weil sie dann erwarten, explizite Sex-Szenen geschildert zu bekommen. Da geht es zwar auch darum, empfindliche Menschen zu warnen, aber vor allem darum, heiß zu machen und dem Buch von vornherein eine Aura emotionaler Dringlichkeit zu verpassen.

Inwieweit spiegeln sich in Triggerwarnungen wissenschaftliche Erkenntisse wider, etwa der Traumaforschung?

Ich bin da kein Experte, aber sicher hat sich der ganze Bereich der Trauma- und Post-Traumaforschung weiterentwickelt. Außerdem werden die Ergebnisse besser kommuniziert, wodurch sich auch Standards verändert haben. Das betrifft ja auch Opfer von Attentaten oder anderen schlimmen Erlebnissen, mit denen man viel professioneller umgeht, als man das lange getan hat – indem man nämlich versucht, sie schnell, umfassend und längerfristig zu betreuen. Und sicher ist auch wegen der Erkenntnisse darüber, was posttraumatische Störungen sind und wie sie wirken können, das Bedürfnis gewachsen, Menschen auf Situationen hinzuweisen, in denen Traumata wiederbelebt werden können. Ich glaube schon, dass das ein wesentlicher Ursprung für viele Triggerwarnungen ist. Klar, das betrifft nur eine kleine Prozentzahl von Menschen, aber für diese ist es eventuell umso schlimmer, wenn ihnen eine Retraumatisierung wiederfährt. Umgekehrt stellt sich die Frage, wie groß die Einbuße für die anderen ist, wenn sie erst eine Triggerwarnung über sich ergehen lassen müssen. 

Polemisch gefragt: Sind Triggerwarnungen auch preiswerter Ersatz für ausreichende Therapie-Angebote?

Das glaube ich nicht, ich glaube vielmehr, dass sie eine Konsequenz daraus sind, dass es entsprechende Therapieangebote gibt, und man durch diese identifizieren kann, welche Situationen für Menschen, die traumatische Erfahrungen gemacht haben, gefährlich sind. Therapie kann in solchen Fällen wahrscheinlich nicht bewirken, dass man das Trauma los wird, sondern nur, dass man es in den Griff bekommt. Damit man auch Prävention üben kann, um Menschen bestimmten Situationen gar nicht mehr auszusetzen, dafür braucht es wohl so etwas wie Triggerwarnungen.

„Jeder kann das, wovor gewarnt wird, an sich heranlassen, wie er das möchte“

Triggerwarnungen werden auch grundsätzlich kritisiert. Mit welchen Argumenten? 

Da wäre etwa das „Snow Flake“-Argument: Man behandle die Menschen wie empfindliche Schneeflocken, wenn man sie dauernd vor etwas warne, könne sie schließlich aber doch nicht vor dem Ernst des Lebens schützen. Warum sollte man also vor ein paar Bilder, Songs oder Texte eine Warnung setzen, wenn die Brutalität des Lebens doch früher oder später zuschlägt? Außerdem, so das Argument weiter, würden wir durch Triggerwarnungen zu verweichlicht. Das glaube ich allerdings nicht. Denn es geht bei Triggerwarnungengar nicht darum, dass gewisse Dinge verboten werden, man also gar nicht mehr mit ihnen zu tun haben soll. Genauso ist es oft ein falsches Argument, zu sagen, die Freiheit der Kunst würde beschnitten, weil man dies und jenes nicht mehr dürfe. Man darf es ja nach wie vor, aber indem das Publikum vorbereitet wird, wird ihm die Möglichkeit gegeben, das Dargebotene in einem gewissen Distanz-Modus wahrzunehmen, um sich so wappnen zu können. Man kann also sagen: Ok, ich will das sehen, aber ich will es nicht zu nah an mich heranlassen. Deswegen bin ich froh, wenn ich mich schon mal darauf vorbereiten kann, dass es in dieser oder jener Hinsicht etwas heftig werden könnte. Das ist doch ganz schön, dass man die Freiheit bekommt, den Modus zu wählen, in dem man etwas an sich heranlässt. Man kann diese Warnung ja auch ignorieren oder sagen: So, jetzt erst recht, jetzt setze ich mich dem voll aus und schalte in einen Genuss- oder Schaulust-Modus. Damit kann jeder das, vor dem gewarnt wird, individuell skaliert an sich heranlassen, so wie man das möchte. Das finde ich als Zivilisationstechnik erst einmal sehr gut, denn es geht um einen Mechanismus, bei dem ich selbst den Regler bedienen kann – so würde ich Triggerwarnungen sehen, als eine Art Regler. Man kann entscheiden, Inhalte so distanziert oder so unmittelbar wie möglich an sich heranzulassen. Eine kurze Vorwarnung zu bekommen, ist völlig okay, zumal wenn es um Inhalte geht, die an dem jeweiligen Ort nicht zu erwarten sind. Vor einem Sexshop wird man nie darauf hinweisen, dass dort pornographische Darstellungen zu erwarten sind, aber wenn in einer Kunstausstellung oder einer kunsthistorischen Vorlesung pornographische Darstellungen behandelt werden, ist es schon sinnvoll, wenn davor gewarnt wird.

„Die Triggerwarnung kann helfen, das zu erleben, was man erleben will“

Gegner argumentieren auch, der unbefangene Zugang zu Kunst werde eingeschränkt …

Ja, die Gegner der Triggerwarnung meinen, da wird der Spaß schon von vornherein verdorben, weil Schocks oder Überraschungsmomente dann nur noch mit angezogener Handbremse wirken. Das glaube ich aber nicht, ja meine, dass Trigger-Warnungen eben auch umgekehrt wirken können, indem sie eine Vorfreude oder Erwartungshaltung erzeugen, wodurch man den „krassen“ Inhalt besser genießen und stärker auf sich wirken lassen kann, als wenn man unvorbereitet ist. So oder so kann die Triggerwarnung helfen, in der direkten Begegnung mit dem Bild, dem Text oder dem Film das zu erleben, was man erleben will. Insofern würde ich nicht sagen, dass die Kunstfreiheit eingeschränkt wird, sondern dass meine Freiheit als Rezipient vergrößert wird. Klar wird es Einzelne geben, die sich dann dafür entscheiden, es lieber gar nicht zu lesen oder zu sehen – aber auch sonst entscheiden wir uns ja täglich dafür, Dinge nicht zu rezipieren, das schränkt ja auch nicht gleich die Kunstfreiheit ein. 

Wann sehen Sie die Grenzen der Kunstfreiheit erreicht?

Die Grenze ist natürlich immer das Strafrecht – ein direkter Mordaufruf an bestimmten Personen wäre eine Überschreitung. Triggerwarnungen sind aber nicht auf der Ebene aktiv, auf der es justiziabel wird, sondern dort, wo es um geschmackliche Fragen, um unterschiedliche Reaktionen geht. Man könnte sagen, Triggerwarnungen operieren auf der Ebene von Höflichkeitsregeln, auf der soziale Umgangsformeln ausgehandelt werden, auf der es sowieso nicht um die Frage geht, ob man das vor Gericht bringen kann. Eine sexistische Darstellung an sich ist ja nicht justiziabel, selbst die Ausgestaltung eines rassistischen Klischees ist zwar ekelhaft, aber nicht strafbar, solange es nicht mit einem Aufruf zu strafbaren Handlungen verbunden ist. Aber auch auf diesem vor-justiziablen Feld braucht es soziale Regeln, um das Zusammenleben zu erleichtern – und dafür sind Triggerwarnungen unter Umständen ganz gut. Aber noch einmal zum Kern der Frage: Natürlich sind sexistische, rassistische und andere Darstellungen erlaubt, also von der Kunstfreiheit gedeckt. Die Personen, die diese fabrizieren, müssen sich aber die Frage gefallen lassen: Was bringt es, was ist der Mehrwert davon? Wenn man bestimmte Formen von Rassismus überhaupt erst einmal sichtbar machen möchte, zum Beispiel in Form eines Theaterstücks, muss man diese Formen als solche vielleicht erst einmal reproduzieren. Dann müssen bestimmte Begriffe oder Formulierungen also auch ausgesprochen werden, das scheint mir grundsätzlich legitimierbar. Wenn der Zweck darin besteht, den Menschen etwas klar zu machen, das ihnen vorher nicht so klar war, dann ist das natürlich von der Kunstfreiheit gedeckt. Aber, wie gesagt, es muss immer begründbar sein, warum man etwas präsentiert, von dem bekannt ist, dass es Menschen verletzen, im schlimmsten Fall retraumatisieren kann. Und da stellt man oft fest, dass diejenigen, die zu solchen Verstößen neigen, es dann doch nicht so gut begründen können. Dann wird der Regelverstoß als solcher fetischisiert, aber die plausible Begründung, was das Ganze jetzt bringen soll, bleibt aus.

„Nicht die eigenen Höflichkeits-Standards zu den einzig gültigen erklären“ 

Ein Recht auf Unverletztheit gibt es nicht – aber gibt es ein Recht darauf, „gemein“ zu sein? 

Es stellt sich immer die Frage: Wer spricht gegen wen? Wird ein Machtgefälle ausgenutzt? Wenn sie sich von unten nach oben richtet, kann Kritik weiter gehen, dann muss sie sogar weiter gehen, weil es keine anderen Mittel gibt, gegen die Mächtigen vorzugehen als mit den Mitteln der Karikatur und Satire. Von oben nach unten wird hingegen ohnehin Macht ausgeübt. Da muss man sie nicht auch noch auf diese Art ausüben. Insofern ist von unten nach oben mehr erlaubt als andersherum. Trotzdem gibt es auch da kein uneingeschränktes Recht auf „Gemeinheit“. Klar, es gibt die Grenzen, die Gesetze ziehen, aber auch darüber hinaus gibt es je nach Situation soziale Standards, auf die man Rücksicht nehmen sollte. Ein Recht auf Unversehrtheit gibt es nicht, aber es sollte schon ein Ideal sein, möglichst wenige Verletzungen zuzulassen. Ich glaube, wenn wir bei diesem Thema ganz generell mit der Idee von Höflichkeit argumentieren, haben wir gute Anhaltspunkte, was sinnvoll und was übertrieben erscheint. Es ist immer ein Aushandlungsprozess, und dass in unterschiedlichen Milieus der Gesellschaft unterschiedliche Regeln gelten, ist auch klar. Das ist vielleicht ein wenig das Problem: dass in manchen Milieus Triggerwarnungen als Selbstverständlichkeit, als soziale Konvention gelten, während man in anderen hemdsärmeliger damit umgeht und andere Standards herrschen. Und es ist immer schwierig, wenn ein Milieu versucht, die eigenen Standards auf die gesamte Gesellschaft zu übertragen. Dann kommt es zu Konflikten, wie auch beim Gendern oder anderen Kulturkampf-verdächtigten Themen. Da trägt jede Seite einen gewissen Universalismus-Anspruch vor sich her und übersieht, dass eigentlich in allen Gesellschaften nicht überall die gleichen Normen gelten, sondern dass diese doch sehr milieuabhängig sind. Darauf sollte man Rücksicht nehmen. Auch das ist wieder eine Art von Höflichkeit: nicht zu versuchen, die eigenen Höflichkeits-Standards zu den einzig gültigen zu erklären, sondern anzuerkennen, dass in anderen Teilen der Gesellschaft andere Standards gelten, und dass diese damit auch okay leben und zufrieden sind.  Selbst wenn ich selbst das dann komisch, zu brutal oder zu sensibel finde.


GANZ SCHÖN EMPFINDLICH - Aktiv im Thema

deutsche-traumastiftung.de | Die Deutsche Traumastiftung arbeitetals Bindeglied zwischen Einrichtungen der Traumaversorgung und der Politik.
drk.de/hilfe-in-deutschland/bevoelkerungsschutz/psychosoziale-notfallversorgung | Der psychologische Notdienst leistet bei plötzliche Krisen Hilfe.
bpb.de/themen/medien-journalismus/medienpolitik/172085/katastrophen-und-ihre-bilder | Der Beitrag diskutiert Probleme der Berichterstattung über Katastrophen.

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Interview: Christopher Dröge

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