Es ist voll im Palladium. So voll, dass man kaum atmen kann. Das Konzert ist restlos ausverkauft. Sigur Rós, Mitte der 90er als unbekannte isländische Independent-Band in Reykjavík gegründet, ist inzwischen zu einer internationalen Musikgröße avanciert. Das erklärt auch die starke Kontrolle am Eingang, die ein wenig an den Empfang eines Superstars erinnert. Auch wenn das sicherlich so nicht gewollt war, sind die isländischen Postrocker doch eine sehr unelitäre Band.
Dann singt „Jónsi“, der mit vollem Namen Jón Þór Birgisson heißt, mit seiner elfenhaften Stimme seine hohen Töne ins Mikro, und das Publikum ist gefesselt. Der inzwischen 40-Jährige Musiker, der von Geburt an auf einem Auge blind ist, singt sehnsuchtsvoll abwechselnd auf Isländisch und in seiner Geheimsprache „vonlenska“, was so viel wie „von Hoffnung“ heißt. Beides, Isländisch und die Fantasiesprache, versteht man überhaupt nicht, und wird man auch so schnell nicht verstehen. Aber das ist kein Nachteil, sondern ein Vorteil, da es dem Publikum umso mehr eigenen Interpretationsspielraum lässt.
Überhaupt liegt der Reiz an der sphärischen, naturverbundenen Ambient-Musik von Sigur Rós – deren Name übersetzt „Sieg“ und „Rose“ bedeutet und Jónsis Schwester, die am Tag der Bandgründung geboren wurde, gewidmet ist – darin, dass sie immer ein verborgenes Rätsel birgt, das nie ganz gelöst wird. Als ich vor 15 Jahren zum allerersten Mal „Njosnavelin“ alias „Untitled #4“ des damaligen Albums „Untitled“, kurz „( )“ hörte, dachte ich zunächst, ich hätte es aufgrund der erreichten Tonhöhe mit einem Knabenchor zu tun. Auch hatte ich den Refrain irrtümlich als „desire – we’re singing out tonight“ übersetzt, wenn mir dieser an eine Boygroup erinnernde Vers auch seltsam vorkam. Umso größer war die Überraschung, dass es sich tatsächlich um eine erwachsene isländische Band mit Fantasiesprache handelte. Aber genau darin liegt die Coolness von Sigur Rós: in der selbstbewussten Weise, wie fiktive Welten und Sprachen mit großer Überzeugung und starker Sehnsucht in die Sphäre hineingeschleudert werden. So fliegen dem Publikum Stücke wie das eher ruhige und schöne „Olsen, Olsen“, das einen extrem langen Höhepunkt hat, um die Ohren. Kontrastiv darauf das düstere und elektronisch angehauchte, geniale „Óveður“, eine Single aus dem Jahr 2016, zu der auch ein großartiges Video entstand. Alles vor dem Hintergrund einer opulenten Lichtshow und von Jónsis musikalischer Leistung, eine E-Gitarre mit einem Cellobogen zu bearbeiten, begleitet.
2013 erschien das inzwischen siebte Album mit dem Titel „Kveikur“. Sigur Rós sind über die Jahre hinweg lauter geworden. Zerstückelter. Verstörter. Postmoderner. So etwa das auf diesem Album metallisch wirkende, aggressive, unaussprechliche Stück „Hryggjarsúla“, das wie eine Platte auf Zerreißprobe klingt. Ihre Lieder, die nicht von dieser Welt zu sein scheinen, beginnen meist vermeintlich harmlos, um sich dann in verstörenden Höhepunkten zu verheddern, wo schließlich ihre Mystik von Elektroschüssen begraben wird. Wie etwa bei „Glósóli“, das mit einem postapokalyptischen Elektrogewitter endet.
In die industrielle Atmosphäre des Palladiums passt das jedenfalls sehr gut, und so ist das Publikum auch ganz hypnotisiert. Vielleicht aber auch nur, weil es tatsächlich nicht mehr atmen kann. Schließlich ist nichts sicher.
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