Der Vorhang ist geschlossen. Davor, ganz nah am Publikum, stehen ein Mikrofon und ein ungewöhnliches Instrument: das Gayageum, ein traditionelles koreanisches Saiteninstrument. Laura Totenhagen betritt die Bühne im Stadtgarten zunächst allein. Leise, fast zurückhaltend erzählt sie von ihrem neuen Album „Raw“, das in fünf Sessions mit verschiedenen Musiker:innen entstand – oft durch spontane Begegnungen direkt im Studio. An diesem Abend spielt sie mit zwei ihrer Weggefährtinnen. Eine besondere Inspiration, erzählt sie, waren RuPauls Memoiren „The House of Hidden Meanings“ mit der Aufforderung, sein „inneres Mädchen“ zu befreien.
Sobald die ersten Töne erklingen, verfliegt Totenhagens Zurückhaltung. An ihrer Seite DoYeon Kim, die aus New York eingeflogen ist und das Gayageum virtuos beherrscht. Die Performance der beiden ist ein Wechselspiel aus Neugier und Wagemut, eine Expedition ins Unbekannte, fast wie ein kindliches Spiel, bei dem sie Grenzen ausloten und Konventionen sprengen. Zwischen Summen und Stottern, Kichern und Rufen entfaltet Totenhagen die ganze Bandbreite und Kraft ihrer Stimme, während Kim das Gayageum auf unterschiedlichste Weise bearbeitet: mal sanft gezupft, mal intensiv geschlagen, mal mit einem Holzstab, mal mit metallischen Gegenständen, die gelegentlich wie von selbst durch die Luft fliegen. Das Duo gibt sich rhythmischen und melodischen Impulsen hin, fordert sich gegenseitig heraus, entwickelt und verwirft Motive. Das Zusammenspiel führt von verträumter Melancholie bis hin zu Ekstase – und lässt für die Zuhörer die abstrakte Welt experimenteller Musik spürbar werden.
Nach einer Pause betritt Lucy Liebe aus Berlin die Bühne, diesmal mit Gitarre und Mikrofon. Nun ist Totenhagen mit einer Vielzahl an Effektgeräten ausgestattet. Der zweite Teil beginnt ruhig: sphärische Töne, die sich zart in der Luft verbinden. Doch bald endet die Harmonie – Klänge schichten sich übereinander, werden immer verzerrter und driften schließlich in archaisches Brüllen, in eine Art Urschrei-Ritual ab. Auch der Humor, der für Totenhagens Musik eine wichtige Rolle spielt, blitzt immer wieder auf, etwa wenn Lucy Liebe plötzlich zur Trompete greift und dem Instrument unorthodoxe Töne entlockt.
Diese Performance ist mehr als nur Musik – sie ist ein Akt der Selbstbefreiung, ein Aufbrechen von Grenzen und Normen. Durch intuitives Spiel und Lust am unverfälschten Ausdruck entsteht ein Klangraum voller Überraschungen, in den Musiker:innen und Publikum gleichermaßen eintauchen und sich neu darin finden können.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Jazz-Highlight im neuen Jahr
David Murray Quartet im Stadtgarten
Besuch von der Insel
„Paul Heller invites Gary Husband“ im Stadtgarten – Improvisierte Musik in NRW 04/24
Achtmal Brücken und siebenmal Rock
Akademiker und Rocker im Konzert – Unterhaltungsmusik 05/23
Je bunter, umso besser
„Die Verwandlung“ in Wuppertal, Köln und Düsseldorf – Improvisierte Musik in NRW 01/23
Den Eisbär im Programm
JugendJazzOrchester NRW im Stadtgarten Köln – Improvisierte Musik in NRW 12/22
„Habe mit dem Klavier eine tiefe Freundschaft geschlossen“
Hans-Joachim Roedelius über Leben und Musik – Interview 08/22
Bloß kein Klangmuseum
„Cologne Jazzweek“ erobert die Domstadt – Improvisierte Musik in NRW 08/22
Back to Business – im falschen Format?
Die Musikbranche zwischen Hoffnung und Bangen – Unterhaltungsmusik 07/22
Die Enthüllung des Unsichtbaren
Suzie Larkes „Unseen“ im Stadtgarten – Kunst 05/22
Ein Newcomer und zwei Legenden
Simon Oslender Super Trio in Köln – Jazz am Rhein 05/22
„In den Normalzustand zurück“
Reiner Michalke über die neue Konzertsaison am Stadtgarten – Interview 11/21
„Die Musik zeigt den Weg“
Schlagzeuger Wolfgang Haffner und das Lebensgefühl Tango – Interview 03/20
Nicht alle sind supersympathisch
(Kinder-)Geburtstags- und Weihnachtsfeiern on Stage – Unterhaltungsmusik 12/24
Zurück zur Straßenmusik
Dan & Dota in der Kantine – Musik 11/24
Noise, Rap und Migration
Zwischen Bühne und Buchdeckel – Unterhaltungsmusik 11/24
Endlich Wochenende
13. Week-End Fest im Stadtgarten – Musik 10/24
Psychedelische Universen
Mother‘s Cake im Helios 37 – Musik 10/24
Aggressive Dringlichkeit
Internationale Acts von Rock über Hip Hop bis Avantgarde – Unterhaltungsmusik 10/24
Eine Party für die Traurigen
Romie in der Maulvoll Weinbar – Musik 09/24
Heftiger Herbstauftakt
Nach Open Air wieder volles Programm in Clubs und Hallen – Unterhaltungsmusik 09/24
Kein Bock auf Sitzkonzert
Mdou Moctar im Gebäude 9 – Musik 08/24
Sommerloch? Nicht ganz ...
Volle Packung Drum‘n‘Bass, Indie, Tuareg-Blues und Black Metal – Unterhaltungsmusik 08/24
Fette Beats im Wohngebiet
Green Juice Festival 2024 in Bonn – Musik 07/24
Vielfalt, Frieden und Respekt
3. Ausgabe von Shalom-Musik.Koeln – Musik 07/24
Die Ruhe im Chaos
Emma Ruth Rundle in Köln und Bochum – Musik 07/24