Kaum ein Konzept wird von den politischen Lagern unterschiedlicher bewertet als das der Gleichheit. Ist diese den einen eine Voraussetzung für eine gerechte Gesellschaft, führt „Gleichmacherei“ für die anderen unweigerlich in die Diktatur. Auch in den Wirtschaftswissenschaften steht „Ungleichheit“ traditionell höher im Kurs: Nach dem allgemeinen Tenor wirkt sich ein „gesundes“ Maß an ökonomischer Ungleichheit positiv auf das Wirtschaftswachstum einer Gesellschaft aus, denn Einkommensunterschiede würden dazu motivieren, produktiver zu sein und machten erfinderischer, führten also zu mehr Innovation. Nachdem nun aber die Schere zwischen Arm und Reich seit den 1980er Jahren global immer weiter auseinander geht, werden auch die Zweifler lauter.
So kamen im Laufe der letzten Jahre mehrere Stimmen auf, die zu dem Schluss kamen, dass die wachsende Ungleichheit nicht nur weiten Teilen der Bevölkerung Nachteile bringt, sondern auch einer Volkswirtschaft insgesamt schadet. Einer, der diese Meinung vertritt, ist Marcel Fratzscher, Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW). In seinem im Frühjahr erschienenen Buch „Verteilungskampf“ stellt er die These auf, die wachsende Ungleichheit in Deutschland habe das Wirtschaftswachstum des Landes um bis zu sechs Prozent abgeschwächt. Damit stellt er sich zwar gegen die Meinung vieler seiner Kollegen, stützt sich dabei jedoch auf eine Studie der OECD von 2014, die einen direkten Zusammenhang zwischen wachsender Ungleichheit und einer Verminderung des Wirtschaftswachstums sieht.
Der Grund für diese Entwicklung liegt nach Meinung der Autoren darin, dass ökonomische Ungleichheit die Bildungschancen der unteren Bevölkerungsschichten beschneidet, denn diese hätten kaum Kapital, dass sie in ihre Bildung investieren könnten. Ohne höherwertige Bildung sei ihnen jedoch der Zugang zu lukrativeren Einkommensmöglichkeiten verbaut, mit denen sie zum Wirtschaftswachstum beitragen könnten – „Chancengleichheit“ (die Form der Gleichheit, mit der sich auch Konservative und Liberale anfreunden können), die Möglichkeit des sozialen Aufstiegs, sei somit nicht gegeben, Ungleichheit würde über Generationen fortgeschrieben.
Der britische Epidemiologe und Sozialforscher Richard Wilkinson beschäftigt sich vor allem mit den psychosozialen Folgen von Ungleichheit und sieht diese ebenfalls vor allem kritisch. Bereits 2009 veröffentlichte er gemeinsam mit der Co-Autorin Kate Pickett das Buch „Gleichheit ist Glück“, das im vergangenen Jahr auf Deutsch erschien. Wilkinson sieht eine statistisch belegte Korrelation zwischen der Ungleichheit einer Gesellschaft und zahlreichen sozialen Problemen – darunter Kriminalität, Gewaltbereitschaft, Drogenmissbrauch und der allgemeine Gesundheitszustand. In allen diesen Bereichen stünden Gesellschaften mit einem hohen Grad an Ungleichheit schlechter da.
Das Institut der deutschen Wirtschaft Köln (IW) hält jedoch dagegen und wendet sich vor allem gegen die Studie der OECD. In einer eigenen Untersuchung räumten die Autoren zwar ein, dass sich ein zu hohes Maß an Ungleichheit negativ auf das Wachstum auswirken könne – dies träfe jedoch vor allem auf wirtschaftlich schwache Länder zu. In Industrieländern wie Deutschland überwögen nach wie vor die positiven Effekte. Die Untersuchung stützt sich dabei auf den Gini-Koeffizienten, ein gängiges Maß zur Darstellung von Ungleichverteilungen. Deutschland liegt nach ihren Erkenntnissen mit einem Wert von 0,29 unter dem kritischen Wert. Weiterhin sei die Ungleichheit hierzulande vor allem zwischen 2000 und 2005 gestiegen, seitdem stagniere sie. Als Erklärung für eine Verminderung des Wirtschaftswachstums nach diesem Zeitraum tauge sie daher nicht.
Auf einen Zusammenhang ganz anderer Art stieß die britische Soziologin Marii Peskow in der European Social Survey (ESS): Demnach sei die Bereitschaft zur Wohltätigkeit in egalitären Gesellschaften deutlich schwächer ausgeprägt, als in solchen mit großen Einkommensunterschieden. Die Erklärung dafür liege im sozialen Statusgewinn, den Wohlhabende in ungleichen Gesellschaften erfahren würden, wenn sie Schwächere unterstützten. In egalitären Gesellschaften herrsche hingegen das Bewusstsein vor, dass dank des Sozialstaats für die Schwachen schon gesorgt sei.
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