Wenn die Rösser mit bestem Hafer gefüttert werden, dann haben auch die Spatzen was davon. Was wie ein Sprichwort daherkommt, ist eigentlich die schnoddrige Formulierung eines ökonomischen Theorems. Das sogenannte Rossäpfel-Theorem besagt, dass die unbegrenzte Akkumulation von Reichtum an der Spitze der Gesellschaft auch den vielen armen Schluckern was bringt.
Die Annahme ist so simpel wie falsch. Angesichts einer immer größeren Konzentration von Reichtum in den Händen weniger, stellt sich die Frage, warum die Mittelschicht immer weiter erodiert, warum sozialer Aufstieg wesentlich seltener stattfindet als Abstieg, und warum ein großer Teil der Gesellschaft abgehängt ist und in Jobcenter-Maßnahmen oder in prekären Arbeitsverhältnissen von der Hand in den Mund lebt.
Ein Blick in die Vergangenheit zeigt, das war mal anders. Ohne die Wirtschaftswunderzeit zu verklären, war die Bundesrepublik von 1950 bis 1973 jedoch durch eine überraschend stabile Ungleichheit gekennzeichnet. Die obersten 20 Prozent banden 43,5 Prozent Einkommen und Vermögen an sich. Die untersten 20 Prozent kamen auf sieben Prozent. Die Mittelschicht konnte für sich 49,5 Prozent verbuchen – im Prinzip war allen Klassen die Partizipation am gesellschaftlichen Leben möglich.
In den 80er und 90er Jahren bekam diese Tektonik eine brutale Unwucht. Der von den Chicago-Boys propagierte neue Liberalismus stand Pate für eine massive Umverteilung von unten nach oben. Besonders im Gefolge der Wiedervereinigung wanderten Einkommen und Vermögen nach oben. Verdienten 1989 die Vorstände der DAX-Unternehmen durchschnittlich 500.000 D-Mark – ein Verhältnis von 20:1 zum Lohn eines durchschnittlichen Arbeitnehmers – verdienen die Vorstände gute zwanzig Jahre später im Schnitt sechs Millionen Euro – ein Verhältnis von 200:1 zur Arbeitnehmerschaft.
Und sowenig die Eliten die Zugewinnexplosion rechtfertigten, sowenig intervenierten Gewerkschaften oder SPD. Die Entwicklung war in den vergangenen 25 Jahren stets gleich – egal ob die SPD regierte oder in der Opposition war. Und die Gewerkschafter winkten in den Aufsichtsräten die Verdiensterhöhungen der Top-Manager durch, während sie in Tarifrunden Reallohnverluste moderierten oder die Stagnation der Lohnentwicklung als Erfolg feierten.
Wenn das alles schon traurig ist, treibt einem der Blick auf die Vermögensverhältnisse das Entsetzen ins Gesicht. Während Vermögen gar nicht besteuert werden, werden die Gewinne aus ihnen mit pauschal 25 Prozent veranlagt. Eingeführt hat die Abgeltungssteuer der Sozialdemokrat Peer Steinbrück. „Er beantwortete das Problem der Kapitalflucht damit, auf den Rechtsanspruch des Staates zu verzichten anstatt ihn durchzusetzen“, schrieb Jakob Augstein im Mai 2014.
Die Verteilungsbilanz: Lohn-, Umsatz- und Verbrauchsteuern ergeben 80 Prozent des gesamten Steueraufkommens, die Unternehmens- und Gewinnsteuern erreichen dagegen nur mehr 12 Prozent. Wenn es um das Eintreiben von Steuern geht, verhält sich der Staat im Prinzip wie ein Dieb: Er holt sich das Geld, wo er am einfachsten rankommt, und das ist bei abhängig Beschäftigten und kleinen Mittelständlern der Fall.
Grotesk wird’s schließlich bei Erbschaften. Mit deren Besteuerung nimmt der Staat bizarre 1,7 Prozent des Bruttoinlandsprodukts ein. Dabei wurde noch nie so viel vererbt wie derzeit. Doch die Lobbyverbände der Wirtschaft verstehen ihr Handwerk im Vergleich zu Gewerkschaftern. Im Zentrum ihrer Propaganda hüllt sich „dieneofeudale Oberschicht […] ins biedere Lobbymäntelchen der Familienunternehmen“ (Jürgen Trittin),die bei einer gerechten Besteuerung Arbeitnehmer entlassen müssten. Verschwiegen wird aber, dass, trotz Gewinnexplosion, die getätigten Reinvestitionen derzeit nicht mal mickrige zehn Prozent betragen – 1991 waren es noch 40, 2001 immerhin noch 25 Prozent.
Selbst die OECD, wahrlich kein Hort radikal linker Ideen, attestiert der BRD eine Zunahme von Ungleichheit. „Unsere Kernbotschaft ist, dass Deutschland ein inklusiveres Wachstumsmodell verfolgen sollte. Basierend auf guten Löhnen, einem fairen Steuersystem, gleichen Bildungschancen für alle und höheren Bildungsinvestitionen“, hatte OECD Generalsekretär Angel Gurría der Politik 2014 mit auf den Weg gegeben. Was Besseres als: „Das ist etwas, über das wir in Deutschland noch intensiver reden müssen“, fiel Sigmar Gabriel, SPD-Vorsitzender und Wirtschaftsminister, nicht ein.
Die Moral von der Geschicht’? Die scheißenden Rösser werden weniger, die Spatzen, die sich von ihrem Schiss ernähren sollen, hingegen immer mehr. Das einzige, was das Rossäpfel-Theorem wirklich illustriert, ist die ewige Regel: Scheiße fällt nach unten. Nicht mehr und nicht weniger.
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