Zur Person: Professor Wolfgang Merkel (64) ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
choices: Die Schere zwischen Arm und Reich klafft immer weiter auseinander. Ungleichheit wird immer größer. Eigentlich beste Voraussetzungen für linke Politik, die Verteilungsfrage erneut substantiell zu stellen?
Wolfgang Merkel: Das ist eine zu einfache Weltsicht. Denn das würde heißen, dass diejenigen, die sich unten in der Gesellschaft befinden, gegen ihre Situation aufbegehren. In letzter Zeit erleben wir aber genau das Gegenteil. Das untere Drittel der Gesellschaft wird nicht rebellisch und wählt links, sondern tendiert vielmehr dazu, apathisch zu werden und aus der Politik auszusteigen.
Wieso steigen diese Menschen aus? Viele Abgehängte sympathisieren mit Renationalisierung und chauvinistischen Ansichten.
Zur Person: Professor Wolfgang Merkel (64) ist Direktor der Abteilung Demokratie und Demokratisierung am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) und Professor für Politikwissenschaft an der Humboldt-Universität zu Berlin.
Auch das ist nicht ganz so einfach. Zunächst gibt es Teile, die sind anfällig für rechtspopulistische Angebote. Darin steckt meistens eine nationalistisch-chauvinistische Komponente. Aber es steckt auch jede Menge Protest mit drin. Befeuert von der Vorstellung, dass sie nichts in der Gesellschaft zählen und nicht gehört werden. Neben der etablierten Politik gibt es gleichsam Angebote, die „denen da unten“ verheißen, dass es Möglichkeiten gibt, sich gegen „die da oben“ wehren zu können. Das ist der Bereich in den Rechtspopulisten mit ihren demagogischen und nationalistischen Parolen vorstoßen.
Einst ist dieses untere Drittel von Gewerkschaften und der SPD vertreten worden.
Sie nutzen zurecht die Vergangenheit, wenn Sie sagen: sind „vertreten worden“. Das untere Drittel ist nicht mehr identisch, mit jenen aus den 50er, 60er oder 70er Jahren. Das waren damals Arbeiter, die gewerkschaftlich organisiert und in der Massenproduktion tätig waren. Sie hatten ein starkes Selbstbewusstsein. Heute sind die unteren Schichten in der Regel keine Arbeiter. Industriearbeiter verdienen heute mehr als ein Assistenzarzt im Krankenhaus, wenn sie bei Porsche, VW oder Daimler arbeiten.
Wer ist denn das untere Drittel heute?
Eher die prekär Beschäftigten. Sehr häufig Frauen, die im unteren Dienstleistungssektor arbeiten. Die sind ganz schwer politisch zu mobilisieren. Waren die unteren Schichten in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts eine treibende Kraft für Reformen, die die Gewerkschaften und die SPD stark gemacht haben, tendiert dieser Teil der Gesellschaft heute eher zu politischer Apathie. Auch weil die SPD heute keine hinreichenden Angebote für ihn macht. Nicht, weil sie nicht wollte, sondern eher, weil sie in einem Dilemma steckt. Die SPD will die arbeitende Mitte bei Wahlen gewinnen: besser Situierte, Facharbeiter und kulturelle Modernisten der Mittelschichten. Nur politische Angebote für diese Klientel bekommt man nicht ohne Weiteres unter einen Hut mit einer Politik, die auch die ganz Schwachen stärkt und auf deren kulturelle Bewusstseinslagen eingeht.
Ist es nicht viel eher so, dass sich die Unterschicht von Gewerkschaften und Sozialdemokratie aktiv abgewendet hat, weil sie sich schlecht vertreten, vielleicht sogar verraten fühlen?
Da bin ich ganz anderer Ansicht. Mit Ihrer Frage unterschätzten Sie einen sehr viel stärkeren und längerfristigen Prozess: Massenorganisationen sind nicht mehr das organisatorische Modell individualistischer, fragmentierter Gesellschaften im 21. Jahrhundert. Darum würde ich nicht sagen, dass die Gewerkschaften zu passiv waren, wenngleich die Lohnzurückhaltung der letzten 20 Jahre ein Fehler war. In Deutschland funktionieren die Gewerkschaften zudem noch relativ gut im Vergleich zu Südeuropa. Es ist eine Illusion zu glauben, Frankreich hätte starke Gewerkschaften. Die sind folkloristisch stark, weil sie große Demos organisieren, haben aber keine Durchschlagskraft mehr in den Betrieben bei einem Organisationsgrad von sieben Prozent.
Kommen wir auf die jungen Linken zu sprechen: Haben die das materialistische Fundament linker Theorie verabschiedet?
Ich würde sagen, sie ist nicht mehr die treibende Kraft für das politische Engagement progressiver junger Menschen. Es geht den jungen Linken aus der Mittelschicht nicht primär um die Verteilungsfrage und erst recht nicht um die im eigenen Lande. Verteilung im globalen Maßstab, zwischen Nord und Süd, das ist ihr Thema. Überhaupt sind die Fragen größer geworden, die junge, zumeist kosmopolitische Menschen in die Politik treibt: Menschenrechtsfragen, die Frage von Krieg und Frieden und nicht zuletzt der Schutz von Minderheiten, seien sie ethnischer, religiöser oder sexueller Art.
Aber geben junge Linke mit der globalen Perspektive nicht den Kern emanzipatorischer Politik preis, wenn sie nicht versucht, das untere Drittel an sich zu binden?
Sie verfolgt schon ein Gleichheitsziel. Aber zu den Abgehängten gibt es keine kulturelle Verbindung mehr. Der Transmissionsriemen von den Gewerkschaften hin zu einer kompakten linken Politik in einer stark individualistischen Gesellschaft funktioniert nicht mehr. Andererseits: Wenn sie bei Attac, Human Rights Watch, Amnesty International oder in Umweltverbänden sind, dann geht es um Themen, die das untere Drittel relativ wenig interessiert. Die jungen politisch Aktiven mit fast ausschließlich hohen Bildungsabschlüssen haben keinen organisatorischen Link zu den Abgehängten. Das 21. Jahrhundert ist einfach nicht mehr das Jahrhundert großer kollektiver Organisationen. Das bricht die Durchschlagskraft linker Politik, die sich jenseits der Parteien individualisiert, kulturalisiert und im Netz virtualisiert hat. Das ist aber für eine wirkungsvolle Umverteilungspolitik die falsche Arena.
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www.attac.de | Attac Deutschland
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