Der Mensch spielt seit, ja, seit wann eigentlich? Vermutlich schon seit immer spielt er mit irgendwem, mit irgendwas. Wahrscheinlich hat er das Spielen von seinen Kindern gelernt. Höhlenmenschen spielten womöglich schon Verstecken, und irgendwann lag in allen Wohnzimmern die Brettspielsammlung in der Schublade. Gesellschaftsspiele fördern das Miteinander. Zugleich ist Spiel Wettkampf: Nur einer kann gewinnen. Aber: Es ist nur ein Spiel. Dann ändert sich 1972 einiges! Atari macht den Aufschlag mit „Pong“: Pixeltennis in Schwarzweiß. Dann komplexer: „Space Invaders“, „Pac-Man“, „Donkey Kong“. Maus, Tastatur, Joystick. Bald sind die Erwachsenen mit im Bot, nein: Boot. Singleplayer, Multiplayer, LAN-Partys – die Gamingwelt zockt miteinander gegeneinander. Videosequenzen, Storytelling, Open World. Games sind bald nicht mehr nur Spiele. Games sind Welten.
Ursache oder Wirkung?
Ein Problem: Gesellschaftsspiele bieten Oasen der Kurzweil, in grenzenlosen virtuellen Welten aber kann man sich verlieren. Gesellschaftsspiele machen selten süchtig. Anders bei den Games: Noch ein Rekord, noch ein Level, im Netz wartet niemand – die digitale Welt dreht sich auch ohne dich weiter! Aus Spiel wird Sucht! Kontroll- und Realitätsverlust. Beruhigend: Zumindest was Kinder angeht, haben ihre Eltern ja ein Auge darauf – kicher. Ein anderes Thema: Gewalt. Seit dem Amoklauf 1999 in Columbine stehen sogenannte „Killerspiele“ als vermeintliche Auslöser zur Gewalttat in der Diskussion. Heute weiß man: Es gibt eine Korrelation zwischen Ballerspiel und Gewalt, aber es besteht kein Kausalzusammenhang. Sprich: Wer potenziell gewalttätig ist, spielt gern mal Killerspiele, wer Killerspiele spielt, ist aber nicht deshalb gewalttätig. Die Ursachen sind komplexer, Stichwort: vernachlässigte Sozialpolitik. Nicht ohne Grund sind es konservative Politiker, die bei Gewalttaten die Verantwortung gern Killerspielen zuschieben (Thomas de Maizière, 2016; Horst Seehofer, 2019). Natürlich muss man die Gewaltdarstellung in Games hinterfragen, wenn nicht vielmehr noch die fahrlässig moderierten Foren dahinter. Aber zum Diskurs gehört auch, dass Games ein Ventil sein können: Morden Menschen, weil sie Killerspiele spielen? Oder morden weniger Menschen, weil sie Killerspiele spielen?
Frust und Freiheit
Games haben ein nicht zu unterschätzendes Suchtpotenzial. Zuviel der Zockerei stumpft ab und führt in mehrfacher Hinsicht zu Haltungsschäden. In manchen Games geht es, wie im Kino, brachial zur Sache. Dafür gibt es aber, wie beim Film die FSK, das USK-Siegel. Beruhigend: Da haben die Eltern ja ein Auge drauf – kicher. Dennoch, bei aller Kritik: Games machen Spaß und sind etabliert – über alle Schichten und Altersklassen hinweg. Games sind geistlos und geistvoll, Quatsch und (politisches) Statement. Games sind längst nicht mehr Hort nerdiger Vereinsamung, sondern befeuern sozialen Austausch. Persönliche Beobachtungen legen zudem nahe, dass der Erfolg der Games auch analogen Spielen zu neuer Aufmerksamkeit verholfen hat, sei es als „Pandemie“ oder als Exit-Rätsel. Längst auch bröckelt beim Gaming die Männerdomäne: Gamerinnen besuchen gleichauf die weltgrößte Videospielmesse Gamescom, Amazonen und Trans-Charaktere weisen „männliche“ Avatare in die Schranken. Games füllen Arenen mit Euphorie, wenn internationale Teams im Fairplay gegeneinander antreten. So wie sie kurzfristig frustrieren können, können Games kurzfristig befreiend sein. Games sind Spiele, solang sie bloß Spiele sind. Ab und zu sollte man aber auch mal wieder Verstecken spielen.
Hat Ihnen dieser Beitrag gefallen? Als unabhängiges und kostenloses Medium sind wir auf die Unterstützung unserer Leserinnen und Leser angewiesen. Wenn Sie uns und unsere Arbeit finanziell mit einem freiwilligen Betrag unterstützen möchten, dann erfahren Sie über den nebenstehenden Button mehr.
Ran an die Regeln
Intro – Verspielt
„Viele Spiele haben noch einen sehr infantilen Touch“
Teil 1: Interview – Medienpädagoge Martin Geisler über Wandel in der Videospiel-Kultur
Jenseits der Frauenrolle
Teil 1: Lokale Initiativen – Die Spieldesignerin und Label-Gründerin Mel Taylor aus Köln
Werben fürs Sterben
Teil 2: Leitartikel – Zum Deal zwischen Borussia Dortmund und Rheinmetall
„Genießen der Ungewissheit“
Teil 2: Interview – Sportpädagoge Christian Gaum über das emotionale Erleben von Sportevents
Immer in Bewegung
Teil 2: Lokale Initiativen – Sportangebote für Jugendliche im Open Space in Bochum
Das Spiel mit der Metapher
Teil 3: Leitartikel – Was uns Brettspiele übers Leben verraten
„Ich muss keine Konsequenzen fürchten“
Teil 3: Interview – Spieleautor und Kulturpädagoge Marco Teubner über den Wert des Spielens
Zusammen und gegeneinander
Teil 3: Lokale Initiativen – Spieletreffs in Wuppertal
Spielglück ohne Glücksspiel
Gegen teure Belohnungen in Videospielen – Europa-Vorbild: Belgien
Spielend ins Verderben
Wie Personalmanagement das Leben neu definierte – Glosse
Demokratischer Bettvorleger
Teil 1: Leitartikel – Warum das EU-Parlament kaum etwas zu sagen hat
Europäische Verheißung
Teil 2: Leitartikel – Auf der Suche nach Europa in Georgien
Paradigmenwechsel oder Papiertiger?
Teil 3: Leitartikel – Das EU-Lieferkettengesetz macht vieles gut. Zweifel bleiben.
Friede den Ozeanen
Teil 1: Leitartikel – Meeresschutz vor dem Durchbruch?
Vom Mythos zur Mülldeponie
Teil 2: Leitartikel – Wie der Mensch das Meer unterwarf
Stimmen des Untergangs
Teil 3: Leitartikel – Allen internationalen Vereinbarungen zum Trotz: Unsere Lebensweise vernichtet Lebensgrundlagen
Zu Staatsfeinden erklärt
Teil 1: Leitartikel – Der Streit über Jugendgewalt ist rassistisch aufgeladen
Der andere Grusel
Teil 2: Leitartikel – Von der rätselhaften Faszination an True Crime
Maßgeschneiderte Hilfe
Teil 3: Leitartikel – Gegen häusliche Gewalt braucht es mehr als politische Programme
Die Masse macht’s nicht mehr
Teil 1: Leitartikel – Tierhaltung zwischen Interessen und Idealen
Wildern oder auswildern
Teil 2: Leitartikel – Der Mensch und das Wildtier
Sehr alte Freunde
Teil 3: Leitartikel – Warum der Hund zum Menschen gehört