Wahlfamilien aus Freunden, Pflegefamilien, Adoption, queere Familien: Sie alle stellen das psychoanalytische Konzept der Kernfamilie aus Vater-Mutter-Kind infrage.
Ein momentan stark rezipiertes Beispiel hierfür ist Dilek Güngörs „Vater und ich“ (Verbrecher Verlag). Hauptfigur Ipek stellt sich während eines Besuchs bei ihrem Vater die Frage, wann die Entfremdung zwischen den beiden begonnen hat, und tastet nach Möglichkeiten, sie zu überbrücken. Dabei geht es indirekt auch um die Brüche zwischen der als Gastarbeiter eingewanderten Elterngeneration und den in Deutschland geborenen, inzwischen studierten Kindern. Güngörs Erzählweise ist die eines sensiblen Realismus’ – zurückhaltend, aber mit einem Auge für die Details.
Auch in ihren bisherigen Büchern befasste sich Güngör mit den Themen Familiengeschichte, Migration und Identität – Inhalte, mit denen sich Tatiana Țîbuleac in ihrem Debüt bewusst nicht beschäftigen wollte. Der erste Roman der in der damaligen Moldauischen Sowjetrepublik geborenen Journalistin erschien im rumänischen Original 2017, jetzt wurde er ins Deutsche übersetzt.
In „Der Sommer, als Mutter grüne Augen hatte“ (Schöffling & Co.) verbringen der 17-jährige Aleksy und seine sterbende Mutter einen letzten gemeinsamen Sommer in Frankreich. Dabei hegt der Sohn seit seiner Kindheit eine ausufernde Wut gegen seine Mutter, die sich in einem chronischen Hang zur Gewalt ausdrückt. Țîbuleac erzählt diesen Sommer in einer bilderreichen, assoziativen Sprache, die, obwohl hin und wieder überladen, dem Delir eines Erzählers entspricht, der konstant droht, in eine andere Realität abzurutschen. Dabei schwankt die Atmosphäre zwischen romantisch und psychedelisch bis paranoid: In dem Ferienhaus quillt das Licht durch Aleksys Finger, eine diabolische Macht hat über seinem Dach eine Lupe installiert. Vor allem der erste Teil des Buchs lebt von der Spannung zwischen dem Verlangen nach Bildern und dem schonungslosen Ton des hasserfüllten Teenagers.
Erst in ihrem zweiten Roman wendet sich Țîbuleac der eigenen Familiengeschichte zu und verhandelt komplexe Identitätsfragen inmitten von kultureller Marginalisierung, Weiblichkeit und (Post-)Kommunismus. „Der Glasgarten“ gewann 2019 den Europäischen Literaturpreis, in deutscher Sprache erschien das Buch bislang nicht.
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