Ist es wirklich ein Unterschied, ob man einen Schlüssel benutzt oder das Schloss aufknackt? Für Joey Comeaus jungen Erzähler in „Lockpick Pornography“ [Luftschacht] eigentlich nicht. Er sieht das philosophisch: Man muss nicht immer machen, was die Welt einem vorschreibt, ja Schlösserknacken sei „fast so, wie queer zu sein“. – Nur was befindet sich in dem Raum dahinter? Was ist das für eine Welt? Oder genauer: Was ist diese Welt für mich? Was bin ich in der Welt, in der Gesellschaft, diesem merkwürdigen Konstrukt, das mich definieren will, von dem ich mich viel zu leicht definieren lasse? Pubertäre Fragen? Und was hat das mit Sexualität zu tun?! Für den Erzähler auf jeden Fall ’ne ganze Menge: Angestachelt von den zu schlechter Letzt auch in engstirnige Dogmen verfallenden Genderdebatten wuchert in ihm eine anarchistische Wut gegen das „tyrannische Glaubenssystem des hetero-normativen Besitzparadigmas“. Voller Inbrunst verschafft er sich mit seinen Lockpicks Zugang zu den Brut- und Gedeihstätten dieses Wertesystems, um es mit einem wüst-queeren und zugleich ungemein empathischen Terrorismus zu nivellieren – während er sich parallel fragt, warum er eigentlich nur mit Männern schläft.
Wie unbeleckt erscheinen einem da zuerst einmal Klaus Bittermanns Protagonisten Sid & Nancy. Nein, nicht die Sid & Nancy. Aber in Anlehnung an, zumindest Sid, der sich in seiner Heldenverehrung der Pistols selber diesen Spitznamen gegeben hat, ihn sich auf seiner wilden Odyssee mit der verzickten Adelstochter Nancy aber erst noch verdienen muss. Punk als Ausdruck der eigenen Gemütslage ist das Eine, Punk leben das Andere. Und so entwickelt sich „Sid Schlebrowskis kurzer Sommer der Anarchie und seine kurze Suche nach dem Glück“ [Tiamat] zu einem schrägen Roadtrip jugendlicher Welt- und Selbsterfahrung, bei dem Sids Schutzengel mehr als einmal eingreifen muss.
Wäre die Welt in ihrer Kompaktheit doch nur so simpel zu begreifen wie die „Infographics“ [Taschen] des National Geographic! Fantastisch, wie sich in diesem Kompendium aus 128 Jahren Magazingeschichte über die beileibe nicht reduzierten, sondern regelrecht kunstvollen Illustrationen höchst diffizile Sachverhalte erschließen. Liebevoll detailversiertes, im Zeichen des jeweils aktuellen Designs aufbereitetes Wissen zum Stöbern, sich drin verlieren. Nur mit dem ‚Schlauerwerden‘ daraus ist es leider so eine Sache; in der Jugend wie im Alter.
Anna jedenfalls ist definitiv raus aus der Pubertät und der damit verbundenen Tabula rasa. Wissenschaftsmagazine, Enzyklopädien oder die hohe Literatur sollten der Bildungsbürgertochter und heutigen Verteilerin von Theaterfördergeldern also durchaus geläufig sein. Doch: Die (nahenden) Wechseljahre respektive die männliche Midlife Crisis zeitigen mitunter eine ähnliche Wirkung wie bei Comeaus oder Bittermanns Protagonisten. So entfacht Simone Meier in „Fleisch“ [Kein & Aber] einen ungekünstelten Ringelpietz mit Anfassen, der auf leichtfüßig lebensmutige Weise das heteronormative Gesellschaftssystem aus den Angeln hebt – wobei Anna den Sex und die Liebe findet, während ihr verbohrter Ex mehr als nur draufzahlt. Was hindert uns also noch?!
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