„Brauchen Filme Sexszenen?“, fragte im August Spiegel online. Höchste Zeit also, die Sache auch hier zu verhandeln. Zuerst Folgendes: Solange Menschen Sex haben, gehört Sex auf die Leinwand. Wobei natürlich nicht jede libidinöse Interaktion auf Zelluloid gebannt werden muss – die Leute gehen im Film bekanntlich auch so gut wie nie auf die Toilette (außer, sie haben dort Sex). Aber was wäre das Kino ohne nackte Sinnlichkeit und frivole Ekstase? Nun: unvollständig. Doch so leicht war das nicht immer, denn spätestens seit dem Sündenfall gilt die Libido als schambehaftet. Damit verdammte das Tabu die Libido vorerst in Privatsphäre und Kopfkino. Trotzdem wollen alle irgendwie teilhaben. Also: Ab in die Kunst damit – Willkommen im Bahnhofskino!
In Lichtspielhäusern sorgen schon früh behördliche Sittenwächter für Ruhe und Ordnung. Doch auch jenseits verruchter Leinwandspelunken bahnt sich die Nacktheit ihren Weg und wird gesellschaftsfähig: Anfangs vornehmlich im europäischen Arthouse, wenig später fällt das Tabu auch für die breite Masse. Der große Durchbruch dann ab den 1980ern: Frau zeigt Brust, Mann zeigt Po – Mickey Rourke („9 ½ Wochen“, „Wilde Orchidee“) und Michael Douglas („Basic Instinct“, „Eine verhängnisvolle Affäre) erwachsen im Beisein weiblicher Prominenz, die sich freizügig gibt, zum Sexsymbol. Die (vornehmlich weibliche) Entblößung gerät dabei gar zum emanzipatorischen Befreiungsakt: Madonnas sexueller Ausbruch 1992 mit ihrem Album „Erotica“, ihrem Bildband „Sex“ und ihrer Hauptrolle in Ulli Edels Erotikthriller „Body of Evidence“ macht nicht nur alle Geschlechter schwach, sondern strotzt vor Selbstbewusstsein. Eine frivole Welle Mitten in den Zeiten von AIDS, Ronald Reagan und George Bush.
Seither bleibt auch das Mainstream-Kino sinnlich, ist damit aber nicht mehr provokant. Das Tabu ist überwunden, und wenn sich Formate wie „50 Shades of Grey“ 2015 als Tabubruch gerieren, ist das nur noch zutiefst bieder. Der Arthouse-Sektor überwindet im Laufe der Zeit letzte Schranken (Gaspar Noé: „Love“), „Game of Thrones“ macht irgendwann für die große Masse den Deckel drauf: Primäre und sekundäre Geschlechtsorgane, Nacktheit, Kastration: Was „Caligula“ 1979 mit Hardcore-Nachdrehs zur Skandal-Schmuddelperle erhebt, ist seit HBO Mainstream. Überhaupt wird Nacktheit im Kino heute oft angenehm unverkrampft behandelt („Poor Things“, „The Substance“) – man könnte fast meinen, Sex gehöre dazu! Und Deutschland? Deutschlands Kino ist nicht prüde, aber unauffällig. Es braucht den Skandal nicht und begnügt sich regelmäßig mit dem Gemächt von Lars Eidinger. Ansonsten ist alles klar von der FSK reguliert, und man hat von dieser Seite keine Zensur zu befürchten, solang folgende Auflage eingehalten wird: „Sexualität wird dargestellt, ist aber in einen inhaltlichen Kontext eingebunden“, heißt es für die Kategorie FSK 18. Sex ist also auf der Leinwand offiziell zumutbar – zumindest im Kontext. Sex ohne Kontext muss man sich weiterhin woanders suchen. Viel Erfolg!
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