„Und jetzt lese ich aus einem irrsinnig deprimierenden Buch, nach dem Sie wahrscheinlich Selbstmord begehen wollen.“
So leitete Sibylle Berg ihre Lesung am Donnerstag im Gloria-Theater ein – obwohl der Begriff Lesung den Abend nicht richtig greift. Denn Frau Berg liest nicht einfach nur aus ihrem neuen Roman „GRM – Brainfuck“ (Kiepenheuer & Witsch) vor, sondern inszeniert eine ganze Show darum mit Videoinstallationen, Performance-Elementen, DJ und Rap-Konzert.
Sibylle Berg, 1962 in Weimar geboren, ist Schriftstellerin und Dramaturgin. Ihr erster Roman „Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot“ (Reclam, 1997) war ihr Durchbruch. Seitdem hat sie zahlreiche Werke veröffentlicht – neben Romanen auch Essays, Kolumnen und Theaterstücke. Auch im Schauspiel Köln konnte man ihre Stück sehen: unter anderem „Wonderland Ave.“, ein bitterböses Stück über die Zukunft der Welt nach weiteren, rasanten technologischen Entwicklungen, und „Viel gut essen“.
Auf ihrer Recherchereise durch Großbritannien, wo ihr neuer Roman spielt, hat sie DJ Prince Rapid und den 14-jährigen Rapper T.Roadz kennengelernt und jetzt mit auf ihre Tour genommen. Die beiden gehören zur Ruff Sqwad, einer britischen Organisation, die weniger privilegierte Jugendliche bei ihrer musikalischen Entwicklung unterstützen und Fähigkeiten wie Rap oder Videoschnitt beibringen. Vor allem „Grime“ – ein Genre mit Einflüssen aus Hip-Hop, elektronischer Musik und Dancehall, das in den frühen 2000ern in London entstand – ist bei den jungen KünstlerInnen beliebt. Der Name „Grime“, der auch titelgebend für Bergs Roman war, erinnert an das englische Wort „grimey“, also schmutzig, das von Journalisten früher benutzt wurde, um den schnellen, wütenden Musikstil zu beschreiben. Einige der KünstlerInnen haben sich dann die Bedeutung aber auch selbst einverleibt und den eher negativen Begriff als Verweis auf ihre Herkunft verstanden – ihre Texte behandeln oft das Leben in sozial benachteiligten Stadtteilen. Aus dem Milieu kommen auch die Kinder und Jugendlichen, die in der Ruff Sqwad und im Grime Hoffnung finden.
Und hier schließt sich der Kreis zum Thema des Romans, der selbst auch in städtischen Problemvierteln spielt – aber in einer fernen Dystopie. Obwohl die Frage aufkommt, wie fern das Szenario wirklich ist und ob man von einer Dystopie sprechen kann, wenn die beschriebenen technischen, politischen und klimatischen Entwicklungen den heutigen sehr ähneln, jedoch zugespitzt sind: In „GRM“ schwanken die Temperaturen von sehr heiß zu sehr kalt, seitdem der Golfstrom ausgefallen ist; in England wird das Grundeinkommen durchgesetzt – jedenfalls für alle Bürger, die sich mit einem Mikrochip registrieren lassen.
In der Welt leben vier Kinder, die dem System aus Kapitalismus und Überwachungsdiktatur entkommen wollen – und auch Hoffnung finden in der Musikrichtung Grime. Die Grenzen zwischen Realität und Fiktion verschwimmen, wenn Sibylle Berg den harten und bedrückenden Alltag der Jugendlichen beschreibt. Und das Ergebnis: „You want war, you get war“ – Auflehnung gegen das System und die Klassengesellschaft. Der erzählende Blick in „GRM“ richtet sich dabei vor allem auf die Jugendlichen, die nachfolgende Generation und ihre Erlebnisse.
Genau das Narrativ der Geschichte bringt Berg auch auf die Bühne des Gloria. Sie selbst nimmt wenig Raum ein und gibt die Bühne frei für drei junge DarstellerInnen: Otiti Engelhardt, Antonije Stankovic und Beverly Mukunyadze. Die beiden Ersteren sind Studierende der Staatlichen Hochschule für Musik und Darstellende Kunst in Stuttgart. Zusammen mit Sibylle Berg sprechen sie Teile des Romans, aber spielen auch Stellen losgelöst vom Text. Besonders eindrucksvolle Momente entstehen im Zusammenspiel mit Technologien: So bauen sie einmal eine Kamera vor sich auf, die die drei auf die Leinwand dahinter überträgt, schauen statt in den Zuschauerraum in die Kameralinsen und stellen bei genauer Betrachtung der Technologie fest, dass es sie ja noch gibt „die Welt“.
Sibylle Berg behandelt Themen, die gerade aktuell sind, aber vor allem die nachfolgenden Generationen betreffen, und gibt genau ihnen Raum. Frau Berg – wie sie auch genannt wird und sich selbst online nennt – sitzt dabei meist im Schneidersitz auf dem Boden und verlässt zwischenzeitlich ganz die Bühne. Sie ist dadurch aber nicht weniger präsent.
Am Ende gibt es tosenden Applaus, den Sibylle Berg kurz zulässt und dann mit einem „Tschüssi“ die Bühne verlässt.
Sibylle Berg: GRM – Brainfuck | KiWi | 640 S. | 25 €
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