Anfangs bin ich skeptisch, wie es sein wird, auf einem Festival mit Kopfhörern herumzulaufen. Ein wenig widersprüchlich erscheint die Vorstellung, sich auf einem sozialen Event zu befinden, ohne dabei zu kommunizieren, denn das ist eher schwierig. Mit riesigen Earphones. Bisweilen hat man das Gefühl, versehentlich auf einem Stummfilmfestival zu sein. Gleichzeitig kommt die Frage auf, ob man sich nicht besser auf seine eigene Couch hätte pflanzen können, anstatt sieben Stunden lang durch vom Regen aufgeweichte Erde des Jugendparks zu marschieren. In diesem Jahr ist ATBS zum ersten Mal als Silent-Festival ausgerichtet. Die angedachte Premiere 2016 fiel dank Hochwasser leider ins Wasser. Somit ist das „Schweige“-Festival At the B-Sites gleichzeitig eine Sozialstudie. Doch dann bin ich angesichts des Programms, der abwechslungsreichen Musik und der Soundqualität positiv überrascht. Und: Endlich quatscht keiner dazwischen.
Den Auftakt machen zwei schmächtige Jungs namens Honig. Ganz im Sinne von „Silent“ spielt jene vom Düsseldorfer Songwriter Stefan Honig ins Leben gerufene Band ruhige, honig-süße Indie-Musik. Nach dem Zwei-Mann-Auftritt folgt mit Dear Reader eine der reinen Mädels-Bands, deren Stil sich zwischen Indie-Pop und Kammermusik bewegt. 2014 spielte die sehr internationale Band schon einmal in Köln. Auch bei ATBS. Diesmal nun als „verstummte“ Version.
Zwischendurch kann man auf der Toilette Podcasts zum Thema „Schallplatten aus der Jugend“ lauschen, denn der Kopfhörer geht ja schließlich überall mit hin. Schwierig wird es, wenn der ewige Begleiter versehentlich ins Klo fällt oder es am Snack-Stand zu Verständnisproblemen kommt. Auch sehe ich immer wieder Gäste ihre Nachbarn anbrüllen. Sie haben das Prinzip „Silence“ anscheinend noch nicht verstanden.
Positiv überrascht mich die belgische Indie-Band mit dem unaussprechlichen Namen BRNS: Mal leise, mal laut, erst rockig, dann elektronisch hypnotisieren ihre mystisch anmutenden, teils nach Björk, dann nach Radiohead, dann nach Bambusstöcken klingenden Lieder, die „My Way Up“ oder „My Head Is Into You“ heißen, das Publikum.
Charlie Cunninghams ruhige, klare Musik hingegen gewinnt durch das Kopfhörer-Prinzip noch mehr an Präzision. Schließlich hört man fast jeden Atemzug des britischen Singer-Song-Writers. Als er auf seinem Stuhl auf der Bühne hockt, entsteht eine große Nähe. Fast möchte man ihn retten. Vor so viel Intimität. Oder man geht mit Charlie eine Runde zum Rhein spazieren.
Kontrastiv zu dieser Ruhe folgt der Hauptact des Abends – die großartigen Trashpunker Bonaparte. Werden die für viel Schweiß, Blut und skurrile Masken bekannten Revolutionäre in Gummianzügen es schaffen, das Publikum so zu fesseln wie sonst? Wie baut man trotz Kopfhörern Kontakt auf? Doch dann wird der Zuschauer ob der pompösen Show, ins Publikum fliegenden Gummibällen und strippenden Menschen beruhigt. Bonaparte knallen ins Ohr. Auch via Kopfhörer. Vielleicht sogar noch intensiver, denn, und auch das ist eine neue Erfahrung, der Zuschauer hört beispielsweise die Ankunft des Balls nicht und wird deshalb umso überraschender und härter am Kopf(-hörer) getroffen. Das Gerücht, dass Frontmann Tobias Jundt, seit er Vater ist, ruhiger geworden sei, bestätigt sich an diesem Abend nicht.
Vielleicht ist aber auch die gelungene Mischung aus schrillen Titeln älterer Alben à la „Computer in Love“ mit auf der Bühne kopulierenden PCs oder „Too Much“ mit gesetzteren, irgendwie intelligenteren Stücken der neuen, nunmehr fünften Platte, die „The Return of the Stravinsky Wellington“ lautet. Jener ist nicht etwa ein polnisch-britischer Philosoph, sondern eine Widmung an seine Katze. Grandios auf jener ist u.a. der ironische Song „White Noize“, eine Parodie auf regierende weiße Staatsmänner und -frauen dieser Welt. Bonaparte blasen in ihre Bläser, tanzen, strippen, was das Zeug hält, egal welche (Bier-)bäuche unter ihren Kostümen hervorblitzen, und sind stolz drauf. Und das Publikum macht bei diesem Visual Circus mit. Trotz Kopfhörern.
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