Muss man Verhalten über Verbote regeln? In Deutschland kann man den Eindruck gewinnen, dass es anders nicht geht. Da wird den Redakteuren im Rundfunk untersagt, ihre Getränke abzustellen, mit dem Hinweis „Die (Misch)-Pulte mögen keine Flüssigkeit!!!“. Klar, dass Computer und Flüssigkeiten keine Freundschaftsbeziehung miteinander unterhalten. Aber deshalb ein Verbot? Interessant auch das Verbotsschild in der „Besamungshalle“ eines Bauernhofs. Dort ist es verboten „während der Besamung zu rauchen oder den Bullen durch Gelächter abzulenken!“. Stilblüten dieser Art fanden die beiden Journalisten Frank Überall und Wolfgang Jorzik reichlich am Wegesrand für ihr Buch „Es ist untersagt… Wie Verbote uns verwirren – und warum wir sie trotzdem brauchen“.
Dass es nicht alleine einen Dschungel an Verbotsschildern auf Bahnhöfen, Flughäfen und Baustellen gibt, sondern die Manie, den anderen den warnenden Zeigefinger vor die Nase zu halten, auch in der privaten Welt regiert, lässt doch auf ein eigenwilliges Menschenbild schließen. Frank Überall geht diesem Phänomen nach, das tatsächlich bei unseren europäischen Nachbarn nicht mit gleicher Verbissenheit gepflegt wird. Ist es eine Infantilisierung, die dort stattfindet? Sind wir eine Nanny-Republik, in der jeder gegängelt werden muss? Das würde manches erklären. Wem keine Verantwortung für sein Verhalten übertragen wird, der identifiziert sich auch nicht mit dessen Folgen. Beim Fußball oder im Straßenverkehr kann man immer wieder beobachten, wie trotz klarer Verstöße gegen die Regeln jede Schuld am eigenen Vergehen mit Vehemenz abgestritten wird.
Frank Überall lässt nicht unerwähnt, dass wir Verbote brauchen, weil sie Grenzen darstellen, durch die ein soziales Leben erst möglich wird. Mit den Grenzen schütze ich andere und mich selbst. Wie sensibel manche Grenzziehung verläuft, zeigt sich in den Kirchen. Sakrale Räume verlangen ein Gespür für die Kontemplation des anderen, da kann ich während der Messe nicht essend und laut redend zur Besichtigung ansetzen. Andererseits macht das Verbot Lust auf eine Übertretung und serviert sie uns oftmals schon verbal.
Das Buch der beiden Journalisten vermisst übersichtlich und detailgenau in der Recherche jene Spanne, die sich zwischen der Notwendigkeit und der Kritik an Verboten entzündet. Im Netz kann man täglich erleben, was geschieht, wenn der Mob in Freiräume einbricht. Auch wenn dort die Freiheit missbraucht wird, muss dennoch stets die Frage nach der Berechtigung von Verboten gestellt werden. In einer Demokratie sollte jedes Verbot auf dem Prüfstand stehen – immer wieder. Denn in dem Moment, in dem das Leben nur noch über Verbote geregelt wird, hört die Freiheit auf zu existieren. Und es sind die Freiräume, in denen sich Kreativität und Andersdenken entwickeln kann. Akribisch geht das Buch den diversen Zugängen zum Thema nach. In seiner Gründlichkeit könnte vielleicht manche Formulierung kürzer gefasst sein. Dafür machen die zahlreichen – mitunter bizarren – Bildbeispiele gute Laune. Vor allem jedoch hat man angesichts einer rapide um sich greifenden Reglementierungswut gute Argumentationshilfen für die gesellschaftliche Auseinandersetzung in der Hand.
Frank Überall: Es ist untersagt… | New Business Verlag | 192 S. | 24,80 €
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