choices: Frau Heurich, auf dem Wissensportal Wikipedia heißt es, Extinction Rebellion wolle durch zivilen Ungehorsam von Regierungen Maßnahmen gegen das Artensterben und den Klimawandel „erzwingen“. Kämpfen Sie demnach unnachgiebig für Ihre Ziele?
Renate Heurich: So würde ich mich nicht beschreiben. Ich stoße mich an dem Wort „erzwingen“. Das würde ich mit „drängen“ ersetzen. Es ist schon so, dass wir die riesige Gefahr der Klimakrise und des Artenaussterbens sehen. Die Löcher im Netz werden größer. Irgendwann fallen wir selber durch. Wir sind abhängig von den Lebensgrundlagen der Natur, und da betreiben wir Raubbau.
Gegen wen oder was haben Sie als Teenager rebelliert?
Da war ich nicht so rebellisch. Ich bin im katholischen Fulda aufgewachsen. Später, während des Studiums, gegen die Stationierung der Pershing-Raketen.
Wie empfinden Sie die mediale Darstellung von Protestgruppen wie Extinction Rebellion, Fridays for Future oder Letzte Generation? Ihr Image ist das von Störenfrieden und Blockierern.
Ja. Das ist einseitig und momentan besonders durch die Letzte Generation geprägt, die mit ihren Straßenblockaden oft in den Medien vertreten sind. Das haben wir auch schon gemacht, ist aber nicht unser Fokus. Das Moment des „Stoppens“ ist bei uns wichtig, aber wir fragen uns, was das bringt. Es ist sinnvoller zu schauen, wen störe ich? Ich fände es viel effektiver, Privatflugzeuge zu blockieren, weil das der reine Luxus ist, bei dem unheimlich viel Kohlendioxid ausgestoßen wird. Ausgewogene mediale Darstellungen sind momentan leider in der Minderheit. Was ich problematisch finde, ist, die Klimabewegung zu kriminalisieren. Uns als Terroristen darzustellen, ist der Wahnsinn, weil wir absolut gewaltfrei gegen Menschen sind. Wir machen auch nichts kaputt. Wenn wir Farbe versprühen, ist es Farbe, die abwaschbar ist. Es ist wichtig, Aufmerksamkeit zu erregen und auf Missstände hinzuweisen.
„Wir sind nonhierarchisch organisiert“
Was sind wesentliche Unterschiede zwischen Extinction Rebellion und Letzte Generation?
Ich sehe zur Letzten Generation einen Unterschied darin, dass wir nonhierarchisch organisiert sind. Leute, die koordinierende Rollen übernehmen, haben dafür ein Mandat. Das müssen die einzelnen Gruppen befürworten. Bei der Letzten Generation ist es eher so, dass die Aktionen von oben bestimmt sind.
Arbeiten verschiedene Protestgruppen auch zusammen?
Ja. Wir treffen uns manchmal und kennen uns auch persönlich. Wir laden uns gegenseitig zu Aktionen ein. Je mehr wir zusammenarbeiten, umso stärker sind wir.
Wie gelingt ein gewaltfreier Diskurs zwischen Protestgruppen und ihren Gegnern?
Gewaltfreie Kommunikation müssen auf jeden Fall alle lernen. Das ist auch unser Anspruch. Wir sind uns aber klar darüber, dass wir nicht so aufgewachsen sind. Wir veranstalten Workshops zu dem Thema. Polizisten würden wir nicht beschimpfen.
Angenommen, Sie wären Mitglied der Bundesregierung: Was würden Sie als erstes ändern?
Ich würde mit dem Tempolimit anfangen. Das gibt es in allen anderen Ländern der EU und würde sogar Leben retten. Das Heizungsgesetz geht in die richtige Richtung, muss aber sozial abgefedert werden. Den Autobahnausbau würde ich sofort stoppen und eher andere Infrastrukturen ausbauen, verstärkt die Bahn. Aber bei Extinction Rebellion zeigen wir nicht die fertigen Lösungen, sondern vertrauen auf einen Bürger:innen-Rat, dessen demokratisch gefällte Entscheidungen von der Regierung umgesetzt werden sollten.
„Bürger:innen sind unabhängiger als Politiker:innen“
Wie?
Es gibt jetzt den Bürger:innen-Rat „Ernährung“, den die Bundesregierung einsetzt. Das ist auch ein wichtiges Thema. Die Räte werden von Expert:innen begleitet. Insgesamt wird die Bevölkerung so besser abgebildet. Das trägt zu mehr Glaubwürdigkeit der Politik bei.
Aber gewählte Abgeordnete repräsentieren doch bereits die Bevölkerung.
Es ist halt die Frage, welche Kompetenzen man diesen Leuten ermöglicht. In Frankreich gab es einen Bürger:innenrat zum Thema Klima. Aber die Forderungen wurden nicht umgesetzt. In Irland gab es diesen Rat zum Thema Abtreibung. Dort wurden die Beschlüsse auch umgesetzt und erwiesen sich als repräsentativ für die gesamte Bevölkerung. Ich glaube, dass Bürger:innen im Unterschied zu Politiker:innen unabhängiger sind. Denken Sie nur an die Beeinflussung durch Lobbyisten und internen Parteidruck.
Verhindert das Fortschritte in der Klimapolitik?
Bedenken Sie, dass es internationale Abkommen gibt und sich die Regierungen seit 1992 treffen. Dennoch steigen die CO2-Emissionen jedes Jahr weiter. Das liegt daran, dass die Industrie ein Interesse hat, einfach weiterzumachen. Exxon startete beispielsweise in den USA eine Kampagne, um in der Bevölkerung Zweifel zu säen. Das ist eine Masche, die auch die Zigaretten-Industrie anwendete. Sie wollen ihr Geschäftsmodell weiter aufrechterhalten. Medien spielen ebenfalls eine große Rolle, indem sie Umweltschutz thematisieren oder auch nicht.
„Wir müssen auf soziale Gerechtigkeit achten“
Ist es hilfreich, für die weltweiten Miseren Schuldigen und Unschuldige auszumachen, wenn es nicht zuletzt um ein allgemeines verändertes Konsumverhalten geht?
Wir müssen unser eigenes Verhalten ändern und Druck auf die Politik ausüben, damit die sich ebenfalls ändert. Aber wir müssen auf die soziale Gerechtigkeit achten. Es ist erwiesen, dass Leute, die reicher sind, einen viel größeren CO2-Abdruck hinterlassen. Das sind nicht nur die Privatflüge, sondern auch gewinnbringende Investitionen in Industrien, die schädlich sind.
Das sind wiederum Schuldzuweisungen.
Ja, es ist aber nunmal so, je reicher die Leute sind, desto größer der Fußabdruck. Das ist ganz klar. Es muss eine gerechte Umverteilung stattfinden.
Aber auch der Mittelstand kann am Samstag mit dem Billigflieger nach Mailand zum Shoppen zu jetten.
Das stimmt leider.
Sie werfen der Politik vor, „viel zu langsam“ zu handeln. Vermuten Sie Vorsatz?
Ich denke, dass die Regierungen wissen, was sie tun. So uninformiert können sie gar nicht sein. Nehmen Sie die Energiewende, die beschlossen wurde und auch weltweit für Schlagzeilen gesorgt hat. Und dann wurde 2012 auf einmal der Hebel plötzlich wieder herumgerissen. Die Solarindustrie ist daraufhin zusammengebrochen. Das war meiner Meinung nach völlig willkürlich. Ich weiß nicht, was Merkels Motive dafür waren.
Schnelles Handeln gerät leicht unbedacht. Haben wir keine Zeit, wohlüberlegt zu handeln?
Natürlich müssen wir wohlüberlegt handeln. Tragisch ist: Hätten wir vor 30 Jahren agiert, hätten wir viel kleinere Schritte machen können. Deshalb müssen wir so schnell wie möglich den Ausstoß von CO2 oder Methan stoppen. Je früher, umso besser.
Die Bundesregierung würde sagen, man sei schon auf dem richtigen Weg, etwa durch den festgelegten Kohleausstieg. Könnte man früher aussteigen?
Müsste man. Das Problem ist, was die Politik für realistisch hält und was die Physik sagt. Mit der Physik kann man nicht konkurrieren. Das zeigt sie uns gerade im Mittelmeerraum. Es ist tragisch, dass wir so viele Chancen verpasst haben. Und ich muss sagen, da ist meine Generation massiv dran besteiligt.
„Mit der Physik kann man nicht konkurrieren“
Was sagen eigentlich Ihre Kinder zu Ihrem Engagement?
Meine Tochter findet das cool. Die älteren Jungs sind nicht abgeneigt, aber nicht engagiert.
Was war ein großer Fehler in ihrem Leben?
In Bezug auf das Klima: Unbedarftheit, Konsum und sich nicht schon früher engagiert zu haben.
Und was war eine große Erkenntnis?
Wie wichtig es ist, solidarisch zu sein und vieles gemeinsam zu erreichen.
Können Sie sich vorstellen, dass Extinction Rebellion den Gang in die Parlamente anstrebt?
Das sehe ich nicht. Das ist nicht der Kern unserer Aktivitäten.
Welche Aktion haben Sie als nächstes geplant?
Darüber kann ich noch nicht reden. Es wird in Köln stattfinden und sehr bunt und kreativ werden.
SCHÖNE NEUE ZUKUNFT - Aktiv im Thema
fian.de | Die in Köln ansässige NGO setzt sich international für Menschenrechte ein, vor allem für das Recht auf Nahrung.
mehr-demokratie.de | Der bundesweit vertretene Verein setzt sich ein für „direkte Demokratie, ein faires Wahlrecht, Transparenz und wirksame Bürgerbeteiligung“.
mitarbeit.de | Die Stiftung Mitarbeit möchte „Menschen ermutigen, Eigeninitiative zu entwickeln und sich an der Lösung von Gemeinschaftsaufgaben zu beteiligen“.
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