choices: Herr Grimm, laut dem European Strategy and Policy Analysis System (ESPAS) haben Europa und die USA an Einfluss verloren. Wer wird künftig den Ton angeben?
Sven Grimm: Die EU und die USA werden als Akteure bedeutsam bleiben. Aber sie sind nicht mehr dominant. Wir werden neue globale Player haben. Ehrlich gesagt haben wir sie jetzt schon: China, Indien. Indonesien, Brasilien sicherlich auch. Das ist immer auch regional und thematisch vielfältig. Letztlich kann man aber – grob gesprochen – den Kreis der G20 als wichtige Akteure regional wie auch global sehen.
Wie wird sich der Einfluss von Akteuren wie USA, China und Indien gewichten?
Wenn es um globale Probleme wie den Klimawandel geht, dann brauchen wir globale Lösungen. Das wird nur gemeinsam mit den großen Akteuren gehen. Sprechen wir über Friedens- und Sicherheitspolitik, wird es völlig unterschiedliche Konstellationen geben, und auch bei Handelsfragen gibt es sehr unterschiedliche Interessen in sehr verschiedenen Weltregionen. Es werden also Koalitionen gebraucht, zu Problemlösungen, die mal größer, mal kleiner sein werden und sich an der Größe des Problems ausrichten müssen.
„Unsere Nachhaltigkeitsagenda steht oder fällt mit Erfolgen in Afrika“
Sind entscheidende Impulse aus Afrika zu erwarten? Die Bevölkerung des Kontinents ist im Schnitt rund 18 Jahre alt.
Entscheidende Impulse wird es in dem Sinne immer geben, dass unsere Nachhaltigkeitsagenda 2030 steht oder fällt mit Erfolgen in Afrika – das auf jeden Fall. Eine eigene Position afrikanischer Länder hierzu sieht man zunehmend. Gleichzeitig gibt es auch eine sehr große Anzahl Länder auf dem Kontinent. Diese Stimmen sind also sehr vielfältig, mit ganz unterschiedlichen Trends.
Wie würden Sie da differenzieren?
Wir können uns wirtschaftliche Bilanzen ansehen. Oder Länder, die gefestigtere demokratische Strukturen haben. Wir können uns Auswirkungen im Handel anschauen oder Krisenstaaten. Letztlich kommen wir aber anden großen Staaten dabei nicht vorbei. Neben Südafrika, Nigeria undÄgyptensind unter anderem Senegal, Ghana, Kenia ebenfalls besondere Akteure in diesem Zusammenhang.
„Dieser Einfluss kann durchaus längerfristige Effekte haben“
Wie könnten sich die Golfstaaten positionieren, wenn der Reichtum durch das Öl abebbt?
Die Golfstaaten positionieren sich bereits. Es gibt jetzt schon in der muslimischen Welt Diskussionen und auch geopolitisches Rangeln um eine Vorherrschaft, insbesondere durch Saudi-Arabien und den Iran. In Kooperationen mit Afrika gibt es Aktivitäten dieser Staaten auf dem Kontinent, um Konstellationen zu testen, Koalitionen zu bilden und, letztlich, Partner zu finden. Die arabischen Staaten sind als Geldgeber beispielsweise für Entwicklungsfinanzierung schon seit den 70er Jahren aktiv, sowohl als einzelne Staaten – wie die Vereinigten Arabischen Emirate, Kuwait, Saudi-Arabienund andere – aber auch zum Teil als multilaterale Akteure. Insofern sind es auch größere Konstellationen, etwa in einer gemeinsamen Entwicklungsbank. Als solche finanzieren sie zum Teil auch Infrastruktur in Bildung, neben anderem, was Entwicklungsbanken häufig unterstützen. Dies kannstark religiös geprägt sein, z.B. durch Saudi-Arabien. Dieser Einfluss kann durchaus längerfristige Effekte in verschiedenen Ländern haben. Es ist dabei nicht anders als mit anderen Akteuren: Auch in der arabischen Welt gibt es ein geopolitisches Ringen, aber die Größenverhältnisse sind nicht so eindeutig wie bei China, Indien, den USA oder Europa als Kollektiv.
„Außenbeziehungen werden zunehmend vergemeinschaftet“
Kommen wir zu Europa: Muss unsere Demokratie zukunftsfähig werden?
Die Demokratie ist zukunftsfähig. Über mitunter langwierige Abstimmungen filtert sie Konsense in Gesellschaften heraus und trifft Entscheidungen, die die Mehrheit der Bevölkerung dann mitträgt. Was neu hinzukommt, sind Krisensituationen und das bedeutet, Problemlösungen nicht nur langfristig, sondern auch Entscheidungen entsprechend einer zunehmenden Geschwindigkeit schneller zu treffen. Da ist Krisenreaktion gefragt. Demokratien müssen sich darauf verstärkt einstellen. Europa ist da in bestimmten Politikbereichen in einer Phase der Neufindungen. Außenbeziehungen werden zwar zunehmend vergemeinschaftet. Doch um schneller krisenreaktionsfähig zu sein, wird das sicher noch weitergehen müssen. Am Beispiel des Überfalls Russlands auf die Ukraine war die EU relativ schnell und bleibt in diesem Punkt auch weiterhin als Akteur krisenreaktionsfähig.
Mit der Coronapandemie sind demokratiekritische Einstellungen populärer geworden. Wie ließe sich darauf reagieren?
Es geht um Fragen des gesellschaftlichen Zusammenhalts und das Gefühl von Bevölkerungsteilen überall auf der Welt, abgehängt worden zu sein oder zu werden. Das wird sich innerhalb der Staaten, auch durch eine andere Kommunikation, ein Stück weit finden müssen, nicht zuletzt in Zusammenarbeit über die Staatsgrenzen hinweg.
„Transparenz ist kein Allheilmittel“
Braucht es mehr Transparenz?
Zu einem gewissen Grad, ja. Ich glaube aber: Es ist kein Allheilmittel. Transparenz brauchen Sie in einer Demokratie immer, sonst wäre es keine. Doch nicht jede internationale Krise lässt sich mit vollständiger Transparenz bearbeiten. Insofern bleibt es ein Spannungsfeld, das sicherlich akuter wird.
Müssen angesichts multipler Krisen eigene Interessen zurückstehen – zum Wohle aller?
Eigene Interessen im Sinne von Egoismen, ja. Die Eigeninteressen werden aber weiterhin in Abstimmung mit anderen Staaten formuliert und ausgehandelt werden müssen, weil es um ein globales Gemeinwohl geht.
Könnte die EU in die „Vereinigten Staaten von Europa“ münden?
Ich bin mir nicht sicher, ob wir uns einen Gefallen mit der Formulierung tun. „Vereinigte Staaten von Europa“ weckt die Erwartung: Wir werden wie die USA. DieEuropäische Union ist schon in einzelnen Politikfeldern gestärkt, hat aber sicherlich noch sehr große Baustellen. Es wird eine engere Kooperation auf EU-Ebene brauchen, um als Kollektiv im globalen Konzert mitzuspielen und die Interessen, über die wir gerade sprachen, mit einzubringen und das globale Gemeinwohl mit zu beeinflussen. Denn letztlich geht es um die Frage, wer welchen Beitrag leistet. Diejenigen, die besonders stark sind, aber auch stark zu Problemen beigetragen haben, werden da besonders in der Pflicht sein. In Klimafragen sind es vor allem die EU und die USA, China inzwischen auch.
„Eine historische Verantwortung wird deutlich“
Die größten Emittenten ...
Genau. Europa und die USA als historisch noch mal sehr viel größere Emittenten. Da wird auf jeden Fall eine historische Verantwortung deutlich. Als Kollektiv Europa, als Staat Deutschland muss man in einer globalen Verantwortung auch entsprechend mehr leisten und kann das auch, mehr als andere.
Braucht es im Selbstbewusstsein dieser Verantwortung ein anderes Auftreten?
Ja, im Selbstbewusstsein der Verantwortung. Als fordernde Macht hingegen wird es schwierig. Es geht vielmehr darum, in klarer Formulierung der Eigeninteressen auch die Kollektivinteressen mit zu vertreten und diesen entsprechend Gehör zu verschaffen.
„Das darf nicht als Besserwisserei rüberkommen“
Es geht also auch darum, andere Staaten darin zu unterstützen, dass sie gehört werden?
Auch das, ja. Ich denke beim Klimawandel sofort an kleine Inselstaaten, die nicht das politische Gewicht mitbringen, aber als kulturelle Einheit am stärksten bedroht sind. Ich bin Europäer, insofern sehe ich als allererstes unser politisches Konstrukt – nämlich meine Regierung und die europäische Kollektivverantwortung. Von Europa ist da auf jeden Fall ein wichtiger Schritt zu gehen als besonderer Verursacher von globaler Klimaerwärmung. Auch als eine Region, die von ihrem Gesellschaftsgefüge soweit überzeugt ist, dass sie meint, davon andere überzeugen zu können. Da sind wir bei der Frage der Demokratie, der politischen Entscheidungsfindungen in Europa. Das darf nicht als Besserwisserei rüberkommen, sondern in Form eines Überzeugens. Letztlich ein Werben für die Gesellschaftsform, von der wir überzeugt sind, die länger- wie auch kurzfristig besten Ergebnisse für die Gesellschaft zu erzielen.
SCHÖNE NEUE ZUKUNFT - Aktiv im Thema
fian.de | Die in Köln ansässige NGO setzt sich international für Menschenrechte ein, vor allem für das Recht auf Nahrung.
mehr-demokratie.de | Der bundesweit vertretene Verein setzt sich ein für „direkte Demokratie, ein faires Wahlrecht, Transparenz und wirksame Bürgerbeteiligung“.
mitarbeit.de | Die Stiftung Mitarbeit möchte „Menschen ermutigen, Eigeninitiative zu entwickeln und sich an der Lösung von Gemeinschaftsaufgaben zu beteiligen“.
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